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Vestager: "Mit Joe Biden ist es ganz, ganz anders"

Margrethe Vestager
Margrethe Vestager(c) Guenther Peroutka
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EU-Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager über ihre Erfahrungen während der Pandemie, die Rückkehr des Wettbewerbs, die neue Kooperation mit den USA und das schwierige Verhältnis zu Mitgliedstaaten wie Ungarn.

Können Sie uns sagen, was die schlimmste und vielleicht auch was die beste Erfahrung für die EU nach oder während der Pandemie war?

Der schlimmste Moment war, als wir nicht zusammengearbeitet haben. Als wir 20, 40 Kilometer lange Lkw-Schlangen an den Grenzen hatten. Als einige essenzielle Schutzausrüstung benötigten und wir uns nicht gegenseitig geholfen haben. Und der beste Moment war, als wir Hand in Hand gearbeitet haben wie bei der Impfstrategie, den Entscheidungen, die zum Aufbau- und Resilienzplan geführt haben, um uns gegenseitig zu helfen, uns von der Pandemie zu erholen, oder dass wir ein europaweites digitales Zertifikat entwickelt haben, damit wir wieder reisen können.

Hat der faire Wettbewerb aufgrund der Pandemie Schaden genommen? Die EU-Staaten haben Staatshilfen in Milliardenhöhe an ihre Unternehmen verteilt.

Nun, das ist etwas, das wir sehr genau verfolgen. Wenn die Staaten den Unternehmen sagen: Verriegeln Sie Ihre Türen und schließen Sie Ihr Geschäft aufgrund der Pandemie, dann muss es dafür natürlich auch eine Entschädigung geben. Aber wir haben gesehen, dass von einem Budget von mehr als drei Billionen Euro weniger als ein Drittel tatsächlich ausgezahlt wurde. Wir werden dies also weiterhin messen. Aber bis jetzt denken wir, dass wir zusammen einen Erfolg erreicht haben. Indem wir Unternehmen einerseits geholfen haben und es gleichzeitig geschafft haben, den Binnenmarkt davor zu bewahren zu zersplittern.

Wenn man den Wettbewerb als das erwünschte Werkzeug sieht, um nach der Pandemie erfolgreich zu sein, was muss auf nationaler und EU-Ebene passieren, um den Wettbewerb zu ermöglichen?

Das Wichtigste ist, darauf zu vertrauen, dass der Wettbewerb uns beim Aufbau helfen wird. Nicht den Fehler zu begehen zu denken, es wäre besser, weniger Konkurrenz zu haben. Wir sollten es Unternehmen ermöglichen, mit anderen zu konkurrieren, um den Antrieb für Innovation zu haben, da unser Wiederaufbau ja digital und grün sein soll. Das Wichtigste ist, sicherzustellen, dass der Binnenmarkt funktioniert. Sodass Kunden eine Auswahl an Unternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten haben. Sodass, wenn es eine öffentliche Ausschreibung gibt, nicht nur Unternehmen im eigenen Land, sondern auch viele andere Unternehmen sich daran beteiligen können.

Wie sieht es mit der neuen Debatte über die weltweiten Mindeststeuersätze für Unternehmen aus? Einige EU-Mitglieder sind dagegen und andere dafür – beispielsweise Deutschland, Frankreich und auch Österreich.

Das ist ein sehr wichtiger Fortschritt. Wir können die Besteuerungsrechte für die 100 größten Unternehmen neu verteilen, sodass die Unternehmen, die einen Wert schaffen, auch besteuert werden. Und gleichzeitig sollte eine Untergrenze für die Unternehmensbesteuerung geschaffen werden, sodass der effektive Steuersatz bei mindestens 15 Prozent liegt. Das ist auch gut für ganz, ganz viele Unternehmen, die ihre Steuern bezahlen, zu sehen, dass jetzt mehr Unternehmen zu den Gesellschaften, in denen sie ihre Geschäfte betreiben, etwas beitragen. Natürlich werden wir auch weiterhin die Augen offen halten, wenn jemand – Sie wissen schon – anderen ausgewählte Vorteile verschafft. Außerdem müssen sich noch die letzten drei Mitgliedstaaten der EU den anderen 137 Ländern für diese globale Arbeit anschließen.

Was wird Ihre Argumentation sein? Wie bekommen Sie sie mit an Bord, zum Beispiel Irland?

Die Länder haben unterschiedliche Bedenken. Das sind Irland, Ungarn und Estland. Alle drei haben eine gewisse Bereitschaft gezeigt, ihre Haltungen zu überdenken.

Denken Sie, dass diese neue Mindeststeuer auch dabei helfen könnte, Steuerprobleme, die wir mit Steuerabkommen in Luxemburg und Irland haben, zu lösen?

Nun, das ist nicht gesagt. Denn schon jetzt, vor diesem hoffentlich neuen Abkommen, haben wir Steuergesetze, die jeder in jedem Land einzuhalten hat. Und ja, wissen Sie, in einigen Fällen haben wir herausgefunden, dass bestimmte Unternehmen besondere Vorteile, die nur für sie gelten, bekommen haben. Wir haben hier noch Arbeit vor uns.

Sie haben zuletzt zwei Fälle am Europäischen Gerichtshof gegen Amazon und Apple verloren. Hat die Kommission nicht ausreichend Möglichkeiten, um gegen solche Steuerabkommen vorzugehen?

Das Gute in all den Fällen vor Gericht, sowohl denjenigen, die wir gewonnen haben, als auch jenen, die wir verloren haben, ist, dass das Gericht bestätigt hat, dass wir die Rechtsmittel, die wir im Kampf gegen Steuerhinterziehung haben, verwenden dürfen. Jetzt warten wir darauf, was bei den Einsprüchen herauskommt.

Donald Trump wird zugeschrieben, dass er gesagt hat: Diese Frau hasst die USA. Würden Sie sagen, Sie haben eine neue Beziehung mit Joe Biden oder ist es mehr die gleiche Beziehung nur mit einem netteren, freundlicheren Gesicht?

Es ist ganz, ganz anders. Erst vor ein paar Wochen haben wir zusammen mit Präsident Biden und Präsidentin von der Leyen den Handels- und Technologierat gegründet. Wir sind bereits dabei, zehn verschiedene Arbeitsgruppen zu etablieren, um zum Beispiel Themen anzugehen wie Standards, künstliche Intelligenz. Als stabile, alte Demokratien zeigen wir, dass Demokratien etwas erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten. Ich fühle mich bestärkt von der neuen Verwaltung. Präsident Biden hat neulich eine Verfügung unterzeichnet, um den Wettbewerb innerhalb der USA anzukurbeln, und ich denke, das zeigt, dass er in eine ähnliche Richtung denkt wie wir.

Da war ein interessantes Detail in Ihrer Antwort. Sie haben China nicht erwähnt. Und soweit wir das verstanden haben, ist dieses neue Technologiebündnis ein Bündnis gegen China.

Nun, es ist ein Bündnis für die demokratische Verwendung von Technologie. Sie ist kein Werkzeug für den Staat, um seine Bürger zu überwachen oder um soziale Kontrolle auszuüben oder um Bürger schlicht, wissen Sie, in datenproduzierende Einheiten zu verwandeln. Es dient dazu, Technologie so zu nutzen, dass sie der Gesellschaft Vorteile bringt. Aber natürlich gibt es eine Art weltweite Rivalität, welches System denn am besten geeignet ist, den Bürgern Möglichkeiten und Wohlstand zu bieten.

Wie eng kann diese neue Beziehung oder besser diese alte neue Beziehung zwischen Europa und den USA werden?

Nun, das ist ein guter Punkt. Es ist immer von den Details abhängig. Unser erstes Treffen mit unseren Amtskollegen, Botschafterin Katherine Tai und Sekretärin Gina Raimondo, war sehr vielversprechend. Nichtsdestoweniger wissen wir, dass wir einigen Bereichen unterschiedliche Ansichten haben. Natürlich kann die Partnerschaft eine Art Kern für eine größere Koalition sein, um andere Demokratien wie Indien, Japan, Australien, Südafrika, Kanada einzubinden.

Als die EU Impfstoffe gekauft hat, sah man, dass die meisten von Biontech-Pfizer und nur ein wenige von Moderna, Johnson & Johnson und AstraZeneca erworben wurden. Gibt es in solchen Fällen ausreichend Wettbewerb?

Wir haben mit mehreren Unternehmen Verträge abgeschlossen. Das Positive daran ist, dass es doch einer größeren Zahl an Unternehmen gelungen ist, einen Impfstoff zu entwickeln. Solange wir also sehen können, dass es eine Auswahl gibt, dass es noch den innovativen Druck für diejenigen gibt, die heutzutage vielleicht nicht so beliebt sind, sodass sie weiterhin versuchen, sich zu verbessern, sind die Dinge in Ordnung. Das Problem wäre, wenn daraus eine monopolistische oder duopolistische Struktur entstünde.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen der Kommission und den osteuropäischen Staaten beschreiben, von denen einige als Visegrád-Gruppe bezeichnet werden?

Es ist für uns sehr wichtig, dass wir mit jedem Mitgliedstaat einzeln auf der Basis der Gleichberechtigung zusammenarbeiten. Und nicht mit Gruppen von Mitgliedstaaten. Denn das kann sehr kompliziert werden. Nichtsdestoweniger finde ich es vollkommen legitim, dass Mitgliedstaaten Dinge miteinander besprechen.

Okay, lassen Sie uns über ein ganz bestimmtes Land sprechen: Ungarn. Sehen Sie da ein Risiko, dass nach dem Brexit auch Ungarn die Union verlässt?

Es liegt in der Hand der Ungarn, ob sie sich für solch einen Weg entscheiden. Für mich ist es, was die Situation in Ungarn betrifft, schmerzlich, dass wir alle denselben Vertrag unterzeichnet haben. Wir haben uns alle für die gleichen Werte entschieden, wir haben uns alle für die europäische Lebensweise entschieden. Und Teil davon ist, andere Menschen nicht zu diskriminieren. Sondern integrierte Gesellschaften zu erschaffen. Wenn man die Union verändern möchte, denke ich, gibt es andere Wege, als Gesetze zu erlassen, die die Frage aufwerfen, ob sie die europäischen Werte widerspiegeln.

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