Ungarn: Keine Zukunft nach der roten Sintflut

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Mit einem neuen Schutzwall hofft der ungarische Katastrophenschutz die Gefahr einer zweiten Giftschlamm-Überflutung zu bannen. Bei den Anwohnern der leck geschlagenen Auffangbecken macht sich Mutlosigkeit breit.

Devecser. Knöcheltief versinken die Gummistiefel im zähen Schlamm. Kolonnen von uniformierten Helfern staksen mit Atemmasken durch die heimgesuchte Stadt. Doch auch mehr als eine Woche nach dem Dammbruch im nahen Aluminiumwerk will der rote Albtraum für die Menschen von Devecser kein Ende nehmen. „Wir haben alles verloren“, seufzt Ferenc David vor seinem verschlammten Anwesen. Noch sei der Rotschlamm feucht – und seien die ausgeteilten Atemmasken „eigentlich nicht nötig“, seufzt der 45-Jährige: „Doch wenn das Zeug abgetrocknet ist, ist es überall in der Luft. Man kann nur noch flüchten. Hier gibt es keine Zukunft mehr.“

Polizisten riegeln die Straße nach Kolontár und zum Unglückswall ab. Aus Furcht vor einem neuerlichen Dammbruch im Rückhaltebecken des nahen Aluminiumwerks sind die 800 Bewohner des Nachbardorfes am Wochenende zum zweiten Mal evakuiert worden. Hunderte Rettungskräfte arbeiteten fieberhaft am Bau eines neuen, 1,5 Kilometer langen und 30 Meter breiten Schutzwalls, der eine zweite Flutwelle des giftigen Schlamms verhindern soll. Premier Viktor Orbán hat angekündigt, die Schuldigen in die Pflicht zu nehmen. Heute, Dienstag, bekommt Orbán Unterstützung von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der sich ein Bild über die Folgen des Unglücks machen will.

Achtes Todesopfer geborgen

Ein roter Rand im weißen Putz markiert in den zerstörten Dörfern den Pegelstand der ganz persönlichen Katastrophen. Eineinhalb Meter hoch sei die Giftbrühe in der Wohnstube gestanden, erinnert sich Ferenc an den Tag, der sein Leben aus den Bahnen warf. Die Hühner seien im Schlamm erstickt, seine 75-jährige Mutter konnte sich auf das Dach retten. Er selbst sei bei dem Dammbruch in der Arbeit im Aluminiumwerk gewesen, erzählt der Maschinenschlosser: „Drei Jahre arbeite ich nun in der Fabrik. Aber ich habe dort lange nicht so viel verdient, wie ich durch das Werk in 15 Minuten verloren habe: Der Schlamm hat unser ganzes Leben zerstört.“

Das achte Todesopfer wurde am Montag in Devecser entdeckt. Dennoch können sich dort die meisten alten Leute nicht vorstellen, woanders noch einmal neu anfangen zu müssen. Die Hälfte der Ortsbevölkerung ist im Aluminiumwerk beschäftigt. Eine Soforthilfe von 364 Euro habe jeder Haushalt erhalten, berichtet die Pensionistin Kati: „Ein Witz, was soll man damit schon kaufen? Es ist einfach alles kaputt.“ Während sie zwei Besen schultert, sagt sie: „Es ist bitter, dass ausgerechnet das Unternehmen, in das wir jahrzehntelang alle unsere Energie investiert haben, uns nun so im Stich lässt.“

Enttäuscht vom Unternehmen

Sie habe selbst dort sechs Jahre lang als Kontrolleurin gearbeitet, sagt die Frau: „Früher mussten wir stündlich Proben aus dem Schlick nehmen, zuletzt wurde das nur noch einmal einen Tag gemacht.“ Nicht nur, dass sich das Unternehmen nur für Schäden bis zu zehn Mio. Forint (36.000 Euro) habe versichern lassen, empfindet sie als „Schweinerei“: „Statt im Anzug und Krawatte ihre Lügen zu verbreiten, sollten die Direktoren hierher kommen – und helfen aufzuräumen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2010)

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