Slits Between Bassists
Kulturgeschichte

Von Punk über Atomangst zur Identitätspolitik

1977 habe der Abschied von der Moderne begonnen, schreibt Philipp Sarasin. Wie kann er das behaupten? Was meinte man damals mit Identität? Und was hat das mit Punk zu tun? Zu zwei neuen Büchern:  „1977" von und „High Energy“ von Jens Balzer.

„No Elvis, Beatles or The Rolling Stones in 1977“, skandierte die Punkband The Clash im Song „1977“, den sie im Herbst 1976 erstmals spielte. Die Prophezeiung erfüllte sich nur zum Teil: Elvis Presley starb am 16. August 1977, die Beatles gab es ohnehin nicht mehr, die Rolling Stones machten munter weiter.

»So ist Jassir Arafat der Winnetou der Achtzigerjahre und das Palituch die alternativkulturelle Version des Indianerkopfschmucks.«

Jens Balzer in „High Energy“.

Nach dem Jahr 1977 heißt auch ein ganzes Album, „77“ von den Talking Heads. Ein Stück darauf, „New Feeling“, beginnt mit einer knappen Zeile: „It's not yesterday anymore.“ Ähnlich sentenziös gesagt: Damit hatte die New Wave offiziell begonnen. Ein gutes Popjahr, dieses 1977.
„Im April 1977 war ich ein paar Tage in London und brachte das Kunststück fertig, nichts von der Punk-Explosion mitzubekommen“: Mit diesem ehrlichen Bekenntnis beginnt Historiker Philipp Sarasin sein Buch, das das glorreiche Jahr weiter glorifiziert. Von einem „Zwischenraum der Zeit“ schreibt er, vom „weißen Rauschen der Gegenwart von 1977“, vom Abschied „von der Moderne zumindest in ihrer ,klassischen‘ Form“. Schließlich hätten 1977 auch die Sex Pistols „verkündet, es gebe keine Zukunft mehr“ (stimmt nicht ganz: Die Pistols sangen „No future for England's dreaming“, und „We're the future“). Und Foucault habe, desillusioniert vom Maoismus, 1977 erklärt: „Wir müssen ganz von vorn anfangen.“

Ein Jahr als Zäsur, als globaler Bruch: Das passt streng nur auf Jahre, in denen Weltkriege begannen oder endeten, vielleicht auch auf 1989 oder 2020 (Corona). Bei anderen Jahren ist es ein kulturhistorisches Spiel. Ein kluges Spiel, das so tut, als walte ein Weltgeist, am liebsten im popkulturellen Gewand, und bereite vor, was wir heute von ihm wollen – diesfalls einen „Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion“. Diesen sieht Sarasin als „Erbe von 1977“, wie auch „das gefährlich schimmernde Zauberwort einer Zeit nach der Moderne“: Identität. Der Begriff „identity politics“ sei im April 1977 geprägt worden, von einer lesbischen Abspaltung der National Black Feminist Organization. Bald griff der postmoderne Philosoph Jean-François Lyotard die Idee im Bändchen „Das Patchwork der Minderheiten“auf.

Von der Utopie zum RAF-Terror

Was hat die Moderne ausgemacht, deren Ende Sarasin 1977 ansetzt? Der Glaube an die Machbarkeit, an ein globales Ziel der Geschichte, und sei es auch nur, dass „alles Ständische und Stehende verdampft“, wie es im Kommunistischen Manifest über den Siegeszug des Kapitals heißt. Gegen den Marx den „Traum von einer besseren Welt ohne Herrschaft von Menschen über Menschen“ setzte: In diesem Traum, schreibt Sarasin, habe Ernst Bloch das „utopische Potenzial aller bisherigen Geschichte“ gesehen.

Am Grab des 1977 gestorbenen Philosophen Bloch beginnt Sarasin sein erstes Kapitel – und erinnert daran, dass Rudi Dutschke dort gesprochen hat: „Dutschkes Grabrede war kaum verklungen, da überfiel am 5. September ein Kommando der Roten Armee Fraktion den Konvoi des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.“ Wir sind im Deutschen Herbst, am Höhepunkt des RAF-Terrors. In ihm sieht Sarasin die Trümmer des modernen linken Traums von der Revolution, wie in der zersplitterten linken „scene“, wie sich diese selbst gern nannte. Auch das Wort von den „Stadtindianern“ kam damals auf. Die römischen „indiani metropolitani“ erklärten 1977 in einem Manifest, dass „die Truppen der Bleichgesichter mit Stahl und Beton den Atem der Natur erstickt“ hätten. Die heute unter die „Coronaskeptiker“ gegangene Nena griff den Topos im Song „Indianer“ auf.

Selbstformung mit Schwarzenegger

Auch die weiteren Kapitel beginnt Sarasin jeweils mit einem Tod des Jahres 1977. Von der US-Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer kommt er auf die feministische Wende; von Anaïs Nin – weithin bekannt durch den Kitschporno „Das Delta der Venus“ – zu Esoterik und Identitätspolitik; vom Lyriker Jacques Prévert zum Computer und zur Postmoderne; vom CDU-Politiker Ludwig Erhard zu den radikalen Marktökonomen, zur Soziobiologie und schließlich zu einem Steirer, der 1977 mit der Doku „Pumping Iron“ zur Ikone des Körperkults, der Selbstformung wurde: Arnold Schwarzenegger.

Ein reiches, bei aller Fantasie der Thesen in den Details seriöses Buch. Dass die Fixierung auf 1977 etwas willkürlich ist, zeigt ein anderes neues Buch: „High Energy“ von Jens Balzer über die Achtzigerjahre. Viele Themen Sarasins kommen auch hier vor: Schwarzenegger etwa – der in den Achtzigern freilich zum Cyborg wurde –, oder die Stadtindianer. Im Indianerkostüm hätten die Deutschen aus der Rolle der Täter in jene der Opfer wechseln können, meint Balzer. Arafat sei „der Winnetou der Achtzigerjahre“ für die deutsche Linke gewesen, deren Liebe zu den Palästinensern stehe in der Tradition des linken Antisemitismus. Heute freilich lehne man das Tragen ethnischer Kleidungsstücke wie des Palästinensertuchs wohl eher als kulturelle Aneignung ab ...

»Es war diese Weigerung, diese postmoderne Geste des Singulären, die Punk ausmachte.
«

Philipp Sarasin in „1977“ über die Sex Pistols.

Zu Beginn aber fokussiert Balzer auf ein Lebensgefühl, das die frühen Achtziger prägte. Man könnte es mit dem Fehlfarben-Lied „Apokalypse“ fassen, oder mit Nestroy: Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang. Balzer zitiert nicht Nestroy, doch sein Einstieg in seine Kulturgeschichte der Achtzigerjahre ist theatralisch im besten Sinn. Er beginnt mit einer großen Demonstration gegen das, was man damals „Theater Nuclear Force“ nannte: Atomraketen. Er kommt schnell auf Apokalypse und Angst, und er führt einen weiteren zentralen Begriff ein: Wende.

Schon 1975 hatte der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl eine „planetarische Wende“ gefordert, fort vom „Raubbau“ an der Natur. 1980 war Gruhl Gründungsmitglied der Grünen, während seine Ex-Partei CDU für eine „geistig-moralische Wende“ eintrat, zurück zu konservativen Werten. So wendete sich der Begriff Wende – der am ehesten mit „turn“ übersetzt wird, im Gegensatz zum „change“, der in den Sechziger- und Nullerjahren en vogue war. Und er wendete sich gegen Ende der Achtziger abermals, in eine völlig unvorhergesehene Richtung: als Bezeichnung für den Fall des Kommunismus.

So rahmt Balzer seine Geschichte des Jahrzehnts, die auch eine Getränkekunde enthält, inklusive Red Bull, das schon 1987 auf den Markt kam – süffiges Beispiel dafür, wie alt viele scheinbar heutige Dinge sind.
Noch verblüffender ist, wie viele Motive heutiger Diskurse tief in den Achtzigern wurzeln. Die multikulturelle Gesellschaft wurde schon 1980 vom Ausländerreferenten der Evangelischen Kirche in Deutschland postuliert. Schon 1981 warnten Uniprofessoren vor der „Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“. Die feministisch-lesbische Theoretikerin Gayle Rubin träumte schon 1985 „von einer androgynen und Gender-losen Welt“, was Judith Butler 1986 in ihrer Idee von der kulturell konstruierten sexuellen Identität aufnahm: „Frauen haben keine Essenz, kein Wesen.“ Schon damals spürte man den inneren Widerspruch der Identitätspolitik: Einerseits soll man alle möglichen Identitäten tunlichst unterscheiden, respektieren und hüten; andererseits gelten diese Identitäten als frei wählbar und konstruiert.

Verwirrung mit Judith Butler

In diesem Sinn gab Butler ihrem bis heute verwirrenden Werk „Gender Trouble“ (1990) den Untertitel „Feminism and the Subversion of Identity“, und sogar Michel Foucault zweifelte am Konzept der Identität: „Es ist sehr langweilig, immer derselbe zu sein.“

Wieso verwenden rechtsextreme „Identitäre“ heute fast denselben Begriff wie Linke? Sogar diese Frage keimte schon in den späten Siebzigern, als Alain de Benoist die „Nouvelle droite“ verkündete und Henning Eichberg, der Maos Losung „Dem Volk dienen“ übernahm, einen Band namens „Nationale Identität“ veröffentlichte. Glich der Keltenkult der Rechten nicht der Indianerschwärmerei der Linken? Der Unterschied sei, dass die linken Identitätspolitiker ihre Idee auf den „fiktionalen Fluchtpunkt der Gleichheit aller Menschen“ bezögen, urteilt Sarasin etwas unscharf in „1977“.

So hat der Ruf nach der Identität bis heute den in sich widersprüchlichen, brüchigen Impetus des Punk. „I Wanna Be Me“ hieß 1976 ein Song der Sex Pistols, in dem „dieses Ich alle übergreifenden Deutungsraster und Wahrheiten rabiat zurückwies“, wie Sarasin schreibt: „Es war diese Weigerung, diese postmoderne Geste des Singulären, die Punk ausmachte.“ So regieren am Ende die Irokesenfrisur (als globales Stammeszeichen) sowie Rasierklinge & Sicherheitsnadel (fürs Cut and Paste der Kategorien), okay?

(c) Suhrkamp
(c) Rowohlt

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.