Reportage

Der Niedergang des Libanon: „Ich weiß nicht, wie lang wir das schaffen“

Ein Jahr nach der veheereden Explosion in Beirut sind die Schäden der Katastrophe noch immer nicht behoben.
Ein Jahr nach der veheereden Explosion in Beirut sind die Schäden der Katastrophe noch immer nicht behoben.REUTERS
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Ein Jahr nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut warten die Überlebenden noch immer auf Hilfe und Gerechtigkeit. Die soziale und wirtschaftliche Lage ist verheerend, das Land steht vor dem Kollaps. Ein Lokalaugenschein.

Auf der Hafenmauer von Beirut stehen die entscheidenden Fragen gepinselt: Wer, wie, warum – und wie geht es weiter? Daneben sieht man eine Waage der Justitia und einige der Namen der mehr als 200 Menschen, die bei der Explosion im Hafen von Beirut vor genau einem Jahr gestorben sind. Bei der Katastrophe wurden auch zahlreiche Häuser in der libanesischen Hauptstadt verwüstet. Ein paar Hundert Meter von den zerstörten Hafensilos entfernt, in denen am 4. August 2020 das dort gelagerte Ammoniumnitrat in die Luft geflogen ist, steht Noaman Kinno auf seinem Balkon und berichtet von dem schicksalsvollen Tag vor einem Jahr. Gestikulierend erzählt er, wie seine Frau und seine Kinder damals verletzt und seine Wohnung zerstört wurden. Er zeigt Fotos auf seinem Handy, von der verwüsteten Wohnung, von den Verletzungen seiner Kinder und denen seiner Frau, die durch einen Glassplitter fast ein Auge verloren hat. Von diesen Verletzungen blieben nur noch die Narben zurück. Die seelischen lauern im Verborgenen.

Gähnende Leere im Medizinschrank

Die Nachgeschichte der Explosion ist auch eine des staatlichen Scheiterns. Schon vor der Katastrophe vor einem Jahr hatte die soziale und wirtschaftliche Krise das Land im Griff. Seit der Explosion hat die libanesische Lira 95 Prozent ihres Wertes verloren. In einem Land, in dem fast alles importiert wird, heißt das auch, dass die Menschen 95 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben.
Woran macht es sich fest, dass ein Land kurz vor dem Kollaps steht? Vielleicht am Zustand des größten staatlichen Krankenhauses: Muhammad Ismail führt durch die Apotheke der Rafik-Hariri-Universitätsklinik in Beirut. Er öffnet den Schrank mit den Präparaten für Chemotherapie gegen Krebs. Dort herrscht gähnende Leere. Daneben, im Kasten für Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente, liegen ein paar vereinsamte Packungen. „Selbst in den Zeiten des Bürgerkrieges waren unsere Bestände nicht so aufgebraucht“, sagt Ismail. Der Grund dafür ist einfach: Weil der Libanon schon länger nicht mehr seine Rechnungen für die im Ausland gekauften Medikamente bezahlt hat, liefert niemand mehr.
Vielleicht kann man es auch am Zustand der Stromversorgung festmachen: Hassan Moaz schaut im Kontrollraum der sechs riesigen Generatoren des Spitals besorgt auf die Temperaturanzeige: Bei 90 Grad schaltet sie sich wegen Überhitzung ab. Der Zeiger steht zwischen 88 und 89 Grad, weil die Generatoren zu lang durchlaufen. Im Moment hat das Spital im Schnitt nur zwölf Stunden am Tag Strom aus dem libanesischen Netz, den Rest müssen die Generatoren schaffen. „Ich lasse mich jeden Tag von neuen Herausforderungen überraschen“, erzählt Hassan Moaz. „Vor Kurzem gab es einmal drei Tage lang keinen Strom aus dem Netz, auch das haben wir überstanden.“

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