Migration

Illegale Grenzgänger: Vilnius fordert EU zum Handeln auf

Lithuania toughens Belarus border with razor wire to bar migrants
Lithuania toughens Belarus border with razor wire to bar migrantsREUTERS
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In den nächsten Wochen wird eine noch größere Migrationswelle erwartet. Litauens Außenminister fürchtet: Die Flüchtlinge seien „eine politische Waffe, um die EU-Politik zu verändern.“

Die Situation verschärft sich beinahe täglich. Zuletzt registrierten die litauischen Behörden knapp 300 illegale Grenzübergänger binnen 24 Stunden; im Juli waren es insgesamt 2000. Zum Vergleich: Im gesamten vergangenen Jahr kamen lediglich 80 Menschen über die 680 Kilometer lange Grenze zu Belarus, dessen Machthaber, Alexander Lukaschenko, als Reaktion auf die gegen ihn verhängten EU-Sanktionen Menschen aus dem Irak, Syrien und Afghanistan die Grenze in das Baltenland passieren lässt. Erhält Litauen nicht rasch Hilfe, so könnten bis zum Ende des Sommers 10.000 Migranten in dem 2,8 Millionen Einwohner zählenden Land festsitzen, befürchtet die Regierung in Vilnius. Gegen den heftigen Protest der lokalen Bevölkerung werden in den Grenzregionen Camps errichtet, die sich binnen Tagen füllen. Wahrscheinlich ist, dass viele der Migranten in andere EU-Länder weiterreisen werden – zumal Litauen wegen der Migrationswelle jüngst seine Asylregeln verschärft hat.

Vor wenigen Tagen rief Präsident Gidanas Nauseda die EU-Partner zu Hilfe: Der gemeinsame Außengrenzschutz liege in der Verantwortung aller 27 Mitgliedstaaten, schrieb er in einem gemeinsamen Brief mit dem derzeitigen Ratsvorsitzenden, dem slowenischen Ministerpräsidenten, Janez Janša, an die übrigen EU-Staats- und Regierungschefs. Hilfe wird vor allem in Form von Ausrüstung zum Schutz und zur Überwachung der Grenze benötigt. Vor vier Wochen hatte Litauen zudem mit dem Bau eines Grenzzauns begonnen. Weil Stacheldraht fehlt, sind die Arbeiten allerdings ins Stocken geraten. Von der EU-Kommission, die Vilnius um Hilfe gebeten hat, heißt es, man finanziere grundsätzlich keine Grenzzäune. Stattdessen versprach Innenkommissarin Ylva Johansson immerhin, die Zahl der Frontex-Grenzschützer auf 100 aufzustocken.

Politische Waffe Lukaschenkos

Denn dies könnte erst der Anfang einer viel größeren Migrationswelle sein, warnt Litauens Außenminister, Gabrielius Landsbergis. In einem Interview mit „Politico“ rechnet er vor: Derzeit gebe es wöchentlich 24 Flüge von Istanbul und acht Flüge von Bagdad in die belarussische Hauptstadt Minsk. „Wenn in diesen Fliegern je 170 Asylwerber sitzen, macht das 6000 Menschen in der Woche“, so Landsbergis. Zudem verhandle Lukaschenko derzeit über eine Visa-Liberalisierung mit Pakistan. „All das hat mit einer Flüchtlingskrise nichts zu tun, es ist eine politische Waffe, um die EU-Politik zu verändern.“

Der Außenminister des Baltenlandes erwartet nun mehr Druck vonseiten der EU: Einerseits auf Minsk, andererseits aber auch auf die Herkunftsländer, ihre Flüge Richtung Belarus einzustellen. „Litauen darf nicht allein gelassen werden. Wir brauchen Hilfe, und wir brauchen sie jetzt. Was bisher passiert ist, wird an der Situation wenig ändern.“ Vilnius wirbt deshalb für einen außerordentlichen Rat der Innenminister im August. Auch Österreich und Deutschland haben Brüssel zuletzt wegen der laschen Reaktion auf die Ereignisse in Litauen kritisiert. „Wir erwarten, dass die Kommission die litauische Regierung beim Außengrenzschutz unterstützt, unabhängig davon, welches rechtsstaatliche Mittel Litauen hierfür wählt. Es wäre fatal, wenn wir die Förderung nur auf die Versorgung und Unterbringung der bereits im Lande befindlichen Migranten beschränken. Ohne einen funktionierenden Außengrenzschutz wird das europäische Projekt scheitern. Die Migration ist eine Schicksalsfrage der EU“, schrieben die beiden Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Horst Seehofer (CSU) vergangene Woche in einer der „Presse“ vorliegenden Stellungnahme.

Migranten werden abgewiesen

Derweil hat Vilnius auf eigene Faust damit begonnen, Migranten an der Grenze abzuweisen. Innenministerin Agnė Bilotaitė wies die Behörden an, die Asylsuchenden aufzuhalten und zu internationalen Grenzübergängen und diplomatischen Vertretungen „umzuleiten“. Dabei darf explizit auch Gewalt angewandt werden. Am Dienstag, dem ersten Tag der neuen Regelung, wurden laut der Nachrichtenagentur BNS 180 Flüchtlinge vom Grenzübertritt abgehalten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2021)

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