Zum Talk über die wirtschaftliche Entwicklung Europas lud „Die Presse“-Redakteur Jakob Zirm Annette Klinger, Thomas Wieser, Monika Köppl-Turyna und Klaus Schweinsberg in die „Libelle“ auf dem Dach des Leopoldmuseums in Wien.
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Herausforderungen der EU für die Post-Corona-Zeit

Podiumsdiskussion. „Die Presse“ veranstaltete in Kooperation mit der Erste Group am 22. Juli den virtuellen Europakongress mit live Diskussionsrunden. In einer mit Top-Experten besetzten Runde ging es um den Zustand der europäischen Wirtschaft.

Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen, nur weil es jetzt eine überhitzte Marktsituation gibt. Die Verfügbarkeit von Material und Personal ist zurzeit ein echtes Problem“, erklärte Annette Klinger, Geschäftsführerin der IFN Internorm Gruppe. Auf der einen Seite würden Mitarbeiter händeringend gesucht, auf der anderen Seite gebe es noch immer hohe Arbeitslosigkeit. „Die Presse“-Redakteur Jakob Zirm, stellvertretender Ressortleiter Economist, begrüßte neben Klinger am Podium Monika Köppl-Turyna, Geschäftsführerin von EcoAustria, Thomas Wieser, bis 2018 Vorsitzender der Eurogroup Working Group und Klaus Schweinsberg, Affiliate Professor ESCP Paris. Zirm wollte zum Einstieg wissen, ob für die Wirtschaft die Coronakrise mittlerweile vorbei sei. Für Klinger, die täglich in ihrem Betrieb die aktuelle Lage beurteilen muss, ist diese Einschätzung offensichtlich zu optimistisch.

Norden und Osten schneller

Wirtschaftswissenschaftlerin Köppl-Turyna stimmte mit Klinger inhaltlich überein, ergänzte aber, dass die nächsten zwei Jahre nachfragegetrieben wären, sich der wirtschaftliche Aufschwung aber ab 2024 wieder auf Vorkrisenniveau einpendeln werde. „Der Norden und der Osten von Europa wachsen deutlich schneller“, argumentierte die EcoAustria-Chefin. „Da zeigen sich die strukturellen Probleme der vergangenen Jahre verstärkt durch den Facharbeitermangel.“ Für sie ist auch der von der Bundesregierung verlautbarte „Comeback-Plan“ nicht ausreichend. Es brauche dringend eine Reform des Arbeitslosengeldes, einen Ausbau der Kinderbetreuung, und weitere strukturelle Reformen.

Die nächste Frage galt der Höhe der Verschuldung einzelner Staaten: Zirm verglich die finanzielle Situation von Italien mit jener von Griechenland nach der Finanzkrise 2010. Währungsexperte Wieser stimmte mit ihm überein, obwohl es durch den European Recovery Fund nicht mehr zu einer Situation wie 2010 kommen könne. Wieser: „Das Staatsschulden-Niveau mancher Staaten ist zwar deutlich zu hoch. Die EZB (Europäische Zentralbank, Anm.) hat sich aber in den letzten Jahren zu einer modernen, flexiblen Zentralbank entwickelt.“

»„Hoffentlich wird’s nicht
so schlimm, wie es schon ist.“

«

Wirtschaftsprofessor Klaus Schweinsberg zitierte den Münchner Komiker Karl Valentin.

Wirtschaftsprofessor Schweinsberg stellte fest, dass die Austeritätspolitik vergangener Tage überwunden sei, weil sich die politischen Akteure vor allem in Deutschland geändert hätten. Das sei laut Köppl-Turyna für verschiedene Länder ein Anreiz, sich noch stärker zu verschulden, was ein falsches Signal wäre. Eine lockere Geldpolitik könne bei Unternehmen auch zu einer Zombifizierung führen, dann nämlich, wenn Firmen künstlich am Leben erhalten werden.

Boom bei Immobilien

Höhere Inflation gepaart mit niedrigen Sparzinsen führt automatisch zu einer Vermögensverringerung bei den Sparern. Wieser beklagte, dass es außer einen Boom bei den Immobilienpreisen keine andere Assetkategorie in Österreich gebe. Wieser: „Könnte man den österreichischen Kapitalmarkt beleben, dann würde auch Druck von den Immobilienpreisen genommen. Durch die Veranlagung in andere Assetkategorien würde die Eigenkapitalbasis der Unternehmen gestärkt.“ Seit vielen Jahre gebe es Lippenbekenntnisse der Regierung zu einem aktiven Kapitalmarkt, in der Realität sei aber nichts geschehen.

IFM-Geschäftsführerin Klinger beklagte ebenfalls, dass es wegen der Inflation zu einer negativen Verzinsung käme, was unweigerlich zu einem Vermögensverlust führe: „Warum soll eine Teilzeitbeschäftigte ihre Arbeitszeit erhöhen, wenn sie dadurch in eine höhere Steuerprogressionsstufe käme und mehr für die Kinderbetreuung zahlen müsste? Das sind völlig negative Anreize für gut qualifizierte Arbeitskräfte.“ Zirm fragte bei Klinger nach, ob niedrige Zinsen nicht positiv für Unternehmen wären. Internorm bemühe sich, einen Großteil der Investitionen selbst zu verdienen. Die Gefahr bestehe, dass es durch die Zombifizierung infolge der Niedrigzinspolitik zahlreiche Unternehmen gar nicht mehr existieren dürften, was zu einer Wettbewerbsverzerrung führe.

Worst-Case-Szenario

Schweinsberg plädierte daher für ein Worst-Case-Szenario, mit dem sich jedes Unternehmen auseinander-
setzen solle. Jede Firma müsste sich die Frage stellen, was es bedeuten würde, wenn die Zinsen plötzlich auf acht Prozent stiegen. Schweinsberg: „Wir sind alle schlecht beim Erfassen von Frühindikatoren. Bill Gates hat bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2017 bereits eine Viruspandemie vorhergesagt und vor den Gefahren eines Hochwassers gewarnt. Das wurde von vielen Teilnehmern als schrullige Einzelmeinung abgetan.“

Für Köppl-Turyna ist es allerdings nicht möglich, jede Krise vorherzusehen: „Jedenfalls gilt, dass ein Unternehmen gewiss schneller aus der Krise herauskommt, wenn es eine stärkere Eigenkapitalbasis hat und auf eine größere Diversifizierung von Handelspartnern setzt.“ Zirm wollte daraufhin wissen, ob Reformpolitik mühsam zu verkaufen wäre, weil Politiker wie Matteo Renzi oder Emmanuel Macron und selbst Gerhard Schröder Schwierigkeiten in der Umsetzung ihrer ambitionierten Ziele gehabt hätten. Schweinsberg erwiderte, dass Bürger nicht per se Reformen ablehnend gegenüber stehen würden. Das zeige das Beispiel der Schweiz, wo die Einwohner sich gelegentlich gegen ihre eigenen Interessen bei Volksabstimmungen entscheiden. Schweinsberg: „In Deutschland orte ich jedoch keinerlei Reformbestrebungen, die Mehrzahl der Bürger ist satt und zufrieden. Eine aktuelle Studie ergab, dass 86 Prozent der Bevölkerung finanziell nicht durch die Covid-19-Pandemie betroffen ist.“

Staatliche Unterstützung

Inwieweit haben sich Unternehmen und Mitarbeiter in der Krise auf finanzielle Unterstützung durch den Staat verlassen? Kurzarbeit war für Klinger ganz wichtig, um die Stammmannschaft im Unternehmen zu halten. Sie habe von einigen Unternehmen gehört, dass sich Mitarbeiter schnell an das Modell 80 Prozent Lohn für 30 Prozent Arbeitsleistung gewöhnt hätten. Klinger: „Wir müssen nun weg von der All-inclusive-Mentalität kommen und Angestellte wieder zurück ins wirkliche Leben führen. Bei Arbeitern gab es dieses Problem nicht, produktionsbedingt mussten diese ja stets anwesend sein.“ Laut Klinger hätten sich Unternehmen in der Pandemie nicht so stark auf die Unterstützung des Staates verlassen.

Demografischer Wandel

Die nächste Fragerunde behandelte das Thema des demografischen Wandels. Prognosen prophezeien, dass sich das Wirtschaftswachstum verringern könnte, wenn die Generation der Babyboomer demnächst in den Ruhestand tritt. Wie wichtig wird dann gezielte Migration für den Wirtschaftsstandort Europa sein? Laut EU-Insider Wieser hat Österreich im Unterscheid zu der Schweiz, Holland, Schweden oder Dänemark kein Interesse, Arbeitskräfte außerhalb der EU zu engagieren. „Vor einigen Jahren erzählte mir ein US-amerikanischer IT-Unternehmer, dass er 500 seiner Mitarbeiter in Wien ansiedeln wollte. Es scheiterte an den Arbeitsbewilligungen für Amerikaner, Inder und Russen durch staatliche und kommunale Institutionen. In der Schweiz hingegen bekam er alle Genehmigungen innerhalb eines Monats. Logisch, dass er sein Unternehmen dort angesiedelt hat.“

Auf der anderen Seite beklagen sich viele Unternehmen, dass sie kein qualifiziertes Personal mehr akquirieren könnten. Schuld sind laut Schweinsberg nicht zu geringe Löhne, sondern der Mangel an attraktiven Sozialleistungen für Arbeitnehmer. Schweinsberg: „Was nützt ein attraktives Gehalt, wenn man sich trotzdem keine Wohnung beispielsweise in München leisten kann?“ Unternehmen wie Siemens, Swarovski oder Lidl/Schwarz errichten deshalb wieder Betriebswohnungen, die für Mitarbeiter finanzierbar sein sollen.

Negative Folgen

Abschließend wollte Moderator Zirm wissen, inwieweit sich europäische Initiativen gegen den Klimawandel (Stichwort: „Fit for 55“) negativ für die Wirtschaft auswirken könnten, weil Europa zu schnell vorangehen würde. Laut Klimawissenschaftlern sei es bereits fünf nach zwölf, erklärte Wieser. Dass jetzt agiert werden müsse, sei klar. Wichtig sei dabei, die Bestrebungen in die nationale, europäische und internationale Wirtschaft einzubetten.

Klinger bestätigte, dass viele europäische Green-Tech-Unternehmen international zwar weit vorn liegen, die Gefahr aber immer noch bestehe, dass „Europa ein Industriemuseum wird, weil zum Beispiel die Stahlindustrie aufgrund Umweltvorgaben nur teuer produzieren kann, wohingegen China und Russland mit billigen Preisen locken, obwohl der Stahl dort viel umweltschädlicher hergestellt wird.“

Mehr Informationen zum Europakongress: www.diepresse.com/europakongress

INFORMATION

Der Europakongress 2021 ist eine Veranstaltung von „Die Presse“ und wird von Erste Group unterstützt.

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