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Kryptische Verbindung

Der Zusammenhang zwischen Obelisk und Bahnhofsuhr ist in Salerno ein rätselhafter.
Der Zusammenhang zwischen Obelisk und Bahnhofsuhr ist in Salerno ein rätselhafter.Martin Amanshauser
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Unterschiedliche Menschen sehen auf Reisen unterschiedliche Dinge - oft werden sie nicht einig.

Ich muss vertrauenserweckend wirken, jedenfalls werde ich im Ausland gern angesprochen. Umso mehr, wenn ich mit den Kindern unterwegs bin. Man fragt mich nach dem Weg, manchmal sogar anachronistischerweise nach der Uhrzeit. Deshalb wundert es mich und die Kinder gar nicht, als mich auf dem Bahnhofsplatz in Salerno eine etwa 45-jährige Frau aufhält und ihr Anliegen in klarem Italienisch vorträgt.

Sie fragt mich, ob ich das, was sie da sieht, ebenfalls sehe. Ich: Was denn? Sie: Da hinten, das da hinten! Ich: Sie meinen das Bankgebäude? Sie: Nein, das rechts davon. Ich: Der Bahnhof? Sie (lacht): Nein, natürlich nicht der Bahnhof, das dazwischen. Ich: Der Obelisk? Sie: Ja, sehen Sie es, bemerken Sie es? Ich: Was meinen Sie? Sie: Na, der Obelisk und die Bahnhofsuhr! Ich: Ich sehe beides, aber was konkret meinen Sie? Sie: Die Verbindung vom Obelisken zur Bahnhofsuhr! Ich: Welche Verbindung? Sie: Diese Verbindung macht mir Sorgen. Finden Sie diese Verbindung normal? Das ist doch unglaublich! Ich: Nein, ich hab keine Sorgen deswegen. Und Sie brauchen sich, glaube ich, auch gar keine Sorgen zu machen... Sie schüttelt irritiert den Kopf, wendet sich ab, grummelt so ein bisschen vor sich hin.

Dann geht sie weiter und spricht den nächsten vertrauenserweckenden Passanten an: Sehen Sie auch, was ich da sehe? Inzwischen ist sie in ziemlicher Aufregung, und ganz offensichtlich kann ihr niemand bei ihrem Problem helfen. Die anderen Leute scheinen allerdings rascher als ich zu kapieren, dass das Gespräch mit dieser netten Frau einfach keine Resultate hervorbringt.

Ich brauche einige Zeit, um den Kindern zu erklären, dass die Frau eine andere Welt erlebt als jene, die wir sehen vor allem aber, dass sie vor dem von ihr Gesehenen Angst hat, weil sie ja mitkriegt, wie die Übrigen es empörenderweise ignorieren. Das ältere Kind, zwölf, hört sich meine Erklärungen genau an und sagt nach einigem Nachdenken: Aber es kann sein, dass sie recht hat mit dem, was sie sieht und alle anderen liegen falsch! Ich sage: Ja, theoretisch könnte das sein, und darauf hofft sie.

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