Afghanistan

Taliban erobern Stadt nahe Kabul, Frankreich setzt Abschiebungen aus

Vertriebene Afghanen fliehen nach Kabul
Vertriebene Afghanen fliehen nach Kabul(c) Getty Images (Paula Bronstein)
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Ghazni, nur 150 Kilometer vor Kabul, ist bereits die zehnte Provinzhauptstadt, die binnen einer Woche an die Islamisten fällt.

Die radikalislamischen Taliban haben die afghanische Provinzhauptstadt Ghazni nur 150 Kilometer vor den Toren Kabuls erobert. "Die Taliban haben die Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Stadt erlangt", sagte der Vorsitzende des Provinzrates, Nassir Ahmed Fakiri, am Donnerstag. Ghazni ist bereits die zehnte Provinzhauptstadt, die binnen einer Woche an die Islamisten fällt. Angesichts der Sicherheitslage setzte indes auch Frankreich Abschiebungen in das Krisenland aus.

Die strategisch wichtige Stadt Ghazni liegt an einer zentralen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar. Die afghanischen Streitkräfte sind zunehmend von Verstärkung über den Landweg abgeschnitten. Mit dem Verlust von Ghazni dürfte der Druck auf die ohnehin überlastete Luftwaffe wachsen.

Die Taliban kontrollieren inzwischen etwa zwei Drittel von Afghanistan. Von US-Geheimdiensten wird nicht ausgeschlossen, dass sie Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen übernehmen könnten. In den vergangenen Tagen hatten die Taliban unter anderem Kunduz und Faizabad eingenommen und belagern nun Mazar-i-Sharif. Bei einer Einnahme von Mazar-i-Sharif würde die Regierung in Kabul die Kontrolle über den Norden des Landes endgültig verlieren.

Nach Deutschland und den Niederlanden setzte am Donnerstag auch Frankreich Abschiebungen nach Afghanistan offiziell aus. Bereits seit Anfang Juli habe es keine Rückführungen mehr in den Krisenstaat gegeben, teilte das Innenministerium mit. Frankreich beobachte die Situation gemeinsam mit seinen europäischen Partnern genau.

Grüne: Abschiebungen "einfach unmöglich"

In Österreich will indes das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter an Rückführungen festhalten. Die Grünen hingegen betonten am Donnerstag erneut, dass Abschiebungen aufgrund der aktuellen Sicherheitslage "einfach unmöglich" seien, wie deren außenpolitische Sprecherin Ewa Ernst-Dziedzic im Ö1-Mittagsjournal sagte. Zu glauben, dass Österreich "auf eigene Faust", also ohne Koordination mit anderen EU-Staaten und ohne Landeerlaubnis aus Kabul, Rückführungen organisieren könne, sei "realitätsfern". Zudem existierten die "viel zitierten innerstaatlichen Fluchtalternativen" in Afghanistan nicht mehr.

Ähnlich äußerte sich der Völkerrechtsexperte Ralph Janik gegenüber dem ORF-Radio. Faktisch sehe es in nächster Zeit nicht danach aus, dass man abschieben könne. Rechtlich sei "ganz klar", dass man in Bürgerkriegsländer nicht abschieben könne. Die Sicherheit aller Personen, also auch jener, die die Geflüchteten begleiteten, derzeit nicht mehr gewährleistet werden. Auch ökonomisch gelte es zu bedenken, dass die Kosten bei alleiniger Durchführung von Abschiebeflügen, also ohne Zusammenarbeit mit anderen Staaten, steigen würden.

Für die Fortführung von Rückführungsflügen setzte sich gegenüber Ö1 der FPÖ-Abgeordnete Hannes Amesbauer ein. Für den SPÖ-Parlamentarier Reinhold Einwallner sowie NEOS-Mandatar Helmut Brandstätter hingegen sind Abschiebungen derzeit "unmöglich".

Immer mehr Länder rufen angesichts des rasanten Eroberungszugs der Taliban auch ihre eigenen Staatsbürger auf, Afghanistan zu verlassen. Deutschland forderte seine Bürger am Donnerstag dringend zur zügigen Ausreise auf. Vor dem Hintergrund der deutlich verschlechterten Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet, inklusive der Hauptstadt Kabul, rate die Botschaft allen deutschen Staatsangehörigen dringend zur schnellstmöglichen Ausreise per Linienflug, heißt es in einer vom Auswärtigen Amt versandten Nachricht. Das österreichische Außenamt hat bereits vor einiger Zeit eine Reisewarnung für ganz Afghanistan ausgesprochen und rät laut Website den im Land lebenden "Auslandsösterreichern und Österreichern, die sich aus anderen Gründen in Afghanistan aufhalten", "dringend" das Land zu verlassen.

Dänemark gab am Donnerstag bekannt, seine lokal ansässigen Mitarbeiter in Afghanistan angesichts des Taliban-Vormarsches außer Landes zu holen. Sowohl aktiven afghanischen Angestellten der dänischen Botschaft in Kabul als auch früheren Mitarbeitern der Botschaft und des Militärs der vergangenen beiden Jahre bietet die Regierung an, sie mit ihren Partnern und minderjährigen Kindern nach Dänemark zu evakuieren. Darauf verständigte sich die Regierung in Kopenhagen mit allen Parlamentsparteien mit Ausnahme der rechtspopulistischen Parteien, wie das Außenministerium am späten Mittwochabend mitteilte.

Dänemark ist in den vergangenen 20 Jahren am NATO-Einsatz in Afghanistan beteiligt gewesen. Wie die Regierung erklärte, ergibt sich daraus ein Bedarf, sich ganz besonders für diejenigen einzusetzen, die Dänemark vor Ort zur Seite gestanden sind und wegen dieses Engagements nun in Gefahr sind.

Deutschland drohte Afghanistan indes mit einem Stopp der finanziellen Unterstützung, sollten die radikal-islamischen Taliban dort ein Kalifat errichten. "Wir geben jedes Jahr 430 Millionen Euro. Wir werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben, wenn die Taliban dieses Land komplett übernommen haben, die Sharia einführen und dieses Land ein Kalifat wird", sagte Außenminister Heiko Maas am Donnerstag im ZDF. Ohne internationale Hilfe sei Afghanistan aber nicht lebensfähig. Den Taliban sei klar, dass sie darauf angewiesen seien.

>> Leitartikel: Das Totalversagen des Westens in Afghanistan ist kaum zu fassen

(APA/AFP)

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