Interview

„Es gibt Konflikte, wer den Ozean wissenschaftlich abbilden kann“

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Politikwissenschaftlerin Alice Vadrot über die größten Bedrohungen der Ozeane – und die Versuche, sie zu retten.

Die Presse: Was lieben Sie am Meer?

Alice Vadrot: Die Unendlichkeit und die Weite. Die Naturgewalt, die spürbar ist, wenn man am Meer entlanggeht, das Rauschen der Wellen. Ich bin halb Französin, mein Vater ist an der Atlantikküste aufgewachsen. Als Kind war ich oft dort, und daher ist Meer für mich eher etwas Stürmisches, etwas Machtvolles und weniger mit Palmen und Strand verbunden. Und das hat mich schon seit meiner Kindheit fasziniert.

Wie viel wissen wir heute über das Meer?

Genug, um zeigen zu können, dass der Klimawandel Auswirkungen auf marine Ökosysteme hat. Aber wir wissen zu wenig, um in bestimmten Bereichen konkrete Maßnahmen setzen zu können. Das betrifft vor allem die Tiefsee und die Hochsee – also jene Bereiche, die weit entfernt sind von der Küste und bisher nicht so sehr im Fokus der Wissenschaft standen. Die Unesco hat kürzlich einen Bericht herausgegeben im Rahmen der Dekade der Ozeanwissenschaft, der davon ausgeht, dass etwa 95 Prozent der Arten noch nicht klassifiziert sind.

Wie sehr betrifft der aktuelle Bericht des Weltklimarats IPCC die Ozeane?

Natürlich sind die Effekte, die der Klimawandel auf terrestrische und marine Ökosysteme hat, sehr relevant für die Ozeane. Es gab 2019 einen eigenen Bericht des IPCC, der dargelegt hat, wie sich der Klimawandel bereits jetzt auf die Ozeane auswirkt. Der aktuelle Bericht zeigt vor allem, dass ein schnelles Handeln notwendig ist.

Welche sind heute die größten Probleme?

Auf jeden Fall die Übernutzung durch menschliche Aktivitäten wie Schifffahrt und Fischerei. Und neue Nutzungsformen, die sich immer weiter in den Ozean hineingraben: etwa der Tiefseebergbau. Verschmutzung durch Chemikalien, Dünger und Plastik ist ein großes Problem. Oder durch Lärm, den Schiffe produzieren – er schadet Meeressäugern sehr. Insgesamt geht es aber um die Art, wie wir als Menschen unsere Ökonomien ausgestalten, Handel betreiben und dabei die Natur ausbeuten und an ihre Grenzen bringen – Staaten müssen Anreize für den Einzelnen, aber auch für Unternehmen setzen, damit sie nachhaltig handeln. Man kann natürlich hineinzoomen und einzelne Sektoren verantwortlich machen; oder man kann das größere Ganze betrachten und einen Wandel unserer Ökonomien fordern. Das passiert jetzt auch immer öfter.

Warum befassen Sie sich als Politikwissenschaftlerin mit dem Schutz mariner Biodiversität, also der Vielfalt der Lebensräume und -formen in den Ozeanen?

Mich hat immer fasziniert, wie sich Akteure mit verschiedensten Interessen darauf einigen können, dass Naturschutz etwas Wichtiges ist, und welche Rolle die Wissenschaft dabei spielt. Das ist genauso wichtig wie die Frage nach dem menschlichen Wohl, Arbeitsplätzen oder Wirtschaftswachstum. Ich beschäftige mich besonders mit dem Schutz mariner Biodiversität in internationalen Gewässern, also Bereichen, die nicht unter nationalstaatlicher Kontrolle sind. Diese Ökosysteme sind öffentliche Güter, die als solche für die heutigen und zukünftige Generationen geschützt werden müssen. Dafür fehlt allerdings bisher der rechtlich-politische Rahmen. Daher ist es ein sehr politisches Thema, das auch einer politikwissenschaftlichen Betrachtung bedarf.

Wie nah oder fern ist man denn da einer internationalen Vereinbarung?

Das aktuelle Abkommen, das derzeit im Rahmen der Vereinten Nationen verhandelt wird, musste aufgrund von Covid-19 nach hinten verschoben werden. Wenn ich mir die Verhandlungen dazu ansehe, stimmt mich positiv, dass es den internationalen Willen gibt, sich auf Ziele und Maßnahmen zu einigen; allerdings gibt es auch festgefahrene Konflikte mit historischer Dimension, die mich zweifeln lassen, ob das Abkommen stark genug sein wird, um etwas zu ändern.

Was interessiert Sie dabei als Forscherin?

Wie die Wissenschaft internationale Verhandlungen informiert, aber auch zum Konfliktobjekt zwischen Staaten wird. Meeresforschung ist höchst ungleich verteilt. Sie ist eine sehr teure Wissenschaft, die sich viele Staaten nicht leisten können. Diese Ungleichheit prägt die Verhandlungen und führt dazu, dass Konflikte über den Schutz der Ozeane zugleich auch Wissenskonflikte sind: Konflikte darüber, wer den Ozean wissenschaftlich abbilden und dadurch ökonomisch nutzen kann und wer nicht.

Die Meeresforschung ist also gewissermaßen ein Luxus der westlichen Industriestaaten und liegt weniger in den Händen der kleinen Inselstaaten der Welt.

Ja, wobei viele indigene Gemeinschaften über die Jahrhunderte großes, hoch relevantes Wissen aufgebaut haben über die Arten und deren Verbindungen. Das wird immer mehr anerkannt, allerdings wird dem ein anderer Wert zugeschrieben als wissenschaftlichem Wissen.

In Ihrem 2018 gestarteten ERC-Projekt „Maripoldata“ geht es um das Zusammenspiel von Macht und Wissenschaft in der internationalen Umweltpolitik. Welche Erkenntnisse haben Sie schon gewonnen?

Wir konnten zeigen, dass das Wissen tatsächlich massiv ungleich verteilt ist: nicht nur bezüglich der Quantität, sondern auch bezüglich der Fragen, zu denen publiziert wird. Während Naturschutzwissen vor allem in Europa, Australien und den USA entsteht, setzt Lateinamerika einen Fokus auf Taxonomie. Dort müssen erst die Grundlagen geschaffen werden, um die Ozeane, marine Ökosysteme, einzelne Arten verstehen zu können. Eines unserer Fallbeispiele ist Brasilien. Dort hat die Forschung in der Tiefsee überhaupt noch nicht begonnen. Sie wird erst jetzt möglich, weil die Ölindustrie an diesen Territorien interessiert ist und Daten für Umweltverträglichkeitsprüfungen braucht, um ihre Aktivitäten zu starten. Das kommt wiederum der Grundlagenforschung zugute. Generell beforschen immer mehr private Forschungsinstitute den Ozean mit beeindruckenden Forschungsschiffen und Robotik, sind aber nicht an ein öffentliches Interesse gebunden. Das Feld entwickelt sich sehr rasant – und das führt dazu, dass jene, die nicht die passende Infrastruktur haben, schneller abgehängt werden.

Wirtschaftlich relevante Bereiche wie die Schifffahrt oder die Fischerei sind schon lang vertraglich geregelt. Fehlt der – bisher stiefmütterlich behandelten – maritimen Biodiversität die Lobby?

Hätte sie keine Lobby, gebe es jetzt keine Verhandlungen. Die Vernetzung der wissenschaftlichen Akteure, die sich massiv für ein Abkommen einsetzen, ist beeindruckend. Vor allem die EU hat dabei unterstützt: auch in dem Bewusstsein, dass eine unwiederbringliche Zerstörung der Ökosysteme den Profit verringert. Der Schutzaspekt und der ökonomische Aspekt sind in den Verhandlungen eng gekoppelt.

Sie sind auch Teil des Leitungsteams des Österreichischen Biodiversitätsrates, der vor den Folgen des Artensterbens warnt. Warum kommt das vorhandene Wissen so wenig bei den Entscheidern an?

In Österreich ist die Tradition, wissenschaftliche Expertise in den politischen Prozess einzuspeisen, nicht sehr ausgeprägt. Es gibt keine formalisierten, institutionalisierten Prozesse, die dafür sorgen würden, dass regelmäßig Expertise abgefragt wird.

Ein Manko aus Ihrer Sicht.

Ja, in Deutschland, Frankreich oder der Schweiz gibt es formalisierte Prozesse. In Österreich ist es so, dass über Netzwerke und Verbindungen natürlich ein Dialog stattfindet. Aber er ist nicht so formalisiert, wie er es sein könnte. Das ist ein Grund, warum sich der Biodiversitätsrat in Österreich formiert hat: einerseits, um die Expertise in Österreich zu bündeln, und andererseits, um ein Sprachrohr zur Politik zu sein.

Mitunter gewinnt man den Eindruck, die Menschen sind durch die Masse schlechter Nachrichten abgestumpft. Wie dringt man dennoch durch?

Menschen hören immer dann zu, wenn sie persönlich betroffen sind. Das sieht man gut bei Naturschutzdebatten. Geht es darum, dass eine Fläche in der Nähe meiner Stadt oder meines Hauses verbaut werden soll, entsteht oft eine Betroffenheit, die handlungswillig macht. Diese müsste man entkoppeln, so dass sie schon dadurch entsteht, dass die Umwelt zerstört wird. Es geht sehr viel um Emotionen. Ich zweifle, ob rationale Argumente weiterhelfen können, aber letztlich müssen auch Top-down-Regelungen durchgesetzt werden: etwa bei der Art, wie Flächenwidmungen in Österreich vollzogen werden. Oder beim Lobau-Tunnel. Da muss ein anderer Dialog stattfinden zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft.

Zur Person

Alice Vadrot (35) studierte in Wien und Paris Politikwissenschaft, Philosophie und Slawistik. 2013 promovierte sie in Politikwissenschaft zur Entstehung des Weltbiodiversitätsrats. Mit einem Erwin-Schrödinger-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF forschte sie zwei Jahre an der University of Cambridge, Großbritannien. Seit November 2018 leitet sie das vom Europäischen Forschungsrat ERC finanzierte Projekt „Maripoldata“, im Februar 2021 wurde sie assoziierte Professorin der Uni Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2021)

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