Buch

Tagebücher waren schon lang wichtige Quellen

 Li Gerhalter „Tagebücher als Quellen“ V&R Unipress 460 Seiten, 40 €
Li Gerhalter „Tagebücher als Quellen“ V&R Unipress 460 Seiten, 40 €
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Die Historikerin Li Gerhalter zeigt, welche Rolle Selbstzeugnisse seit 200 Jahren in der Wissenschaft spielen und wie unterschiedlich sie gestaltet sind – etwa mit Erinnerungsstücken wie Zündholzbrieferln oder Zuckerlpapierln.

„Das Seelenleben der Jugendlichen“: Vor genau hundert Jahren, im Herbst 1921 veröffentlicht die junge Psychologin Charlotte Bühler eine Studie mit diesem Titel. In wenigen Monaten war das Buch vergriffen. Das Besondere: Bühler verwendete Tagebücher als Quellen in der damals noch neuen Disziplin Jugendpsychologie. Und sie war eine der Ersten, die ihre daraufhin in Wien aufgebaute Sammlung der Forschung zugänglich machte.

„Tagebücher werden seit 1800 wissenschaftlich ausgewertet“, erklärt Li Gerhalter von der Uni Wien. Sie hat Geschichte, Soziologie und Gender Studies in Wien und Berlin studiert. Ihr Schwerpunkt Erinnerungspraktiken und Selbstzeugnisforschung verknüpft die Fächer miteinander. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Medium Tagebuch mit all seinen Geheimnissen, eigensinnigen Logiken und vielen Funktionen hat sie nun als theoretisch fundierte Studie in ein Buch gegossen. Es führt zurück bis zu den Arbeits- und Sammlungspraxen der Kleinkindforscher im 19.

Jahrhundert, wo die Aufzeichnungen in der Medizin, Pädagogik, Sprachwissenschaft und später der Psychologie eine Rolle spielten.
Zuerst seien ganz bestimmte, thematisch ausgerichtete Tagebücher – jene, die Eltern über die ersten Lebensjahre ihrer Kinder angefertigt haben – gefragt gewesen, weiß Gerhalter. „Auf solchen individuellen Dokumentationen sind diese Wissenschaften in ihren Anfängen tatsächlich aufgebaut worden. Später wurde zu anderen Quellen gegriffen. Aber zu Beginn standen Tagebuchaufzeichnungen.“ Die Ergebnisse stuft sie als eine Mischung zwischen wissenschaftlicher Publikation und „Erziehungsratgeber“ ein.

Vätertagebücher von Laien

Laienforscher, die im Brotberuf Theologen, Beamte oder Militärs waren, antworteten auf Aufrufe in Fachzeitschriften und stellten ihre sogenannten Vätertagebücher Forschern wie Joachim Heinrich Campe zur Auswertung zur Verfügung. So mancher Wissenschaftler hat auch gleich selbst dokumentiert. Der wahrscheinlich bekannteste Autor, der ein solches Elterntagebuch angefertigt und dann ausgewertet hat: Charles Darwin.
Die Tagebuchforscherin beschäftigt sich mit persönlichen Aufzeichnungen von „Personen, die nicht in einer prominenten Öffentlichkeit standen“.

Diese wurden in der Geschichtsforschung der 1980er quasi wiederentdeckt. Heute spricht man von „Life-Writing-Forschung“, und inzwischen füllen die Selbstzeugnisse umfangreiche Archive. Sie machen neben Gedanken oder Meinungen auch Schreibkonventionen, Moden und individuelle Praktiken sichtbar. „Eine Dame hat auf ihren Reisen immer Notizen gemacht. Dazu bewahrte sie in Bonbonniereschachteln kleine Dinge wie Zündholzbrieferln oder Zuckerlpapierln auf. Sie hat 93 solcher Sammlungen angelegt!“, schildert Gerhalter.

Sie selbst hatte schon mit 250 nicht veröffentlichten Tagebüchern zu tun. Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit schriftlichen Selbstdokumentationen begann in einem Projekt über die Frauenrechtsaktivistin Mathilde Hanzel-Hübner, als sie als Studentin in Kurrent verfasste Handschriften abgetippt hat. „Im Studium bekam ich dann die großartige Chance, mich mit weiteren historischen Selbstzeugnissen beschäftigen zu können“, schwärmt Gerhalter. 2000 wurde sie eine der ersten Mitarbeiterinnen der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Uni Wien. Dort landet zum Glück immer wieder neues Material: „Gerade wurden uns Tagebücher aus den 1980ern angeboten.“


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