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„Europa ist noch nicht wirklich zusammengewachsen“

Zum Talk über die zukünftige Integration der Westbalkanstaaten in die Europäische Union traf „Die Presse“-Chefredakteur den österreichischen Außenminister Alexander Schallenberg und via Livestream zugeschaltet Ivan Krastev.
Zum Talk über die zukünftige Integration der Westbalkanstaaten in die Europäische Union traf „Die Presse“-Chefredakteur den österreichischen Außenminister Alexander Schallenberg und via Livestream zugeschaltet Ivan Krastev.(c) Guenther Peroutka
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Diskussion. Außenminister Alexander Schallenberg und Politologe Ivan Krastev (per Video zugeschaltet) beleuchteten mit „Die Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak die Frage der EU-Osterweiterung sowie die Rolle Südosteuropas in einer potenziellen Migrationswelle.

Die Erweiterung der Europäischen Union, konkret um die sechs Westbalkan-Staaten, stockt. Während die Verhandlungen mit Montenegro und Serbien bereits laufen, warten Albanien und Nordmazedonien noch auf deren Start. Das nicht zuletzt deshalb, weil Bulgarien den Beginn der Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien mit seinem Veto blockiert, wodurch sich auch der Start der Verhandlungen mit Albanien verzögert. Doch auch das Engagement der EU selbst lässt zu wünschen übrig, so der Sukkus der Diskussion von Außenminister Alexander Schallenberg und Ivan Krastev, Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia, die von „Die Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak moderiert wurde.

Verlorene Energie

„Das politische Momentum und die Energie sind verloren gegangen“, bedauerte Krastev. Für ihn sei es beispielsweise unverständlich, dass die sechs Staaten des Westbalkans nicht in die Konferenz zur Zukunft Europas – in deren Rahmen europäische Bürger die Herausforderungen und Prioritäten Europas erörtern und Ideen einbringen können – eingebunden seien. Hätte man die neuen mittel- und osteuropäischen Partner so behandelt wie die Westbalkan-Staaten jetzt, wären sie wahrscheinlich noch immer keine EU-Mitglieder und hätten sich woanders hingewandt, ergänzt Österreichs Außenminister. Denn ein Vakuum gäbe es nicht, so die beiden Experten.

Wenn Europa weniger interessant und interessiert sei, würden Russland, China oder die Türkei die Lücke füllen. Doch das könne aus verschiedenen Gründen problematisch werden: So habe China Montenegro einen Kredit über 900 Millionen Euro für den Bau einer Autobahn gewährt. „Montenegro ist ein EU-Beitrittskandidat und ein Nato-Mitgliedsstaat und plötzlich in China in einer Weise verschuldet, die von strategischer Bedeutung ist. Da können wir nicht wegschauen“, sagte Schallenberg.

»„Wir müssen in allen Teilen Europas diese Region besser verstehen.“«

Alexander Schallenberg, österreichischer Außenminister

Auf die harte Tour

Ein anderer Faktor sei jener der Sicherheit: Die Geschichte habe gezeigt, dass es in Zentraleuropa keine dauerhafte Stabilität und Sicherheit gäbe, es sei denn, es gibt diese in Südosteuropa. „Diese Lektion haben wir im 19. und 20. Jahrhundert auf die harte Tour gelernt“, so Schallenberg. Das gelte auch in Zusammenhang mit Migration, wie sich in der Flüchtlingskrise 2015 gezeigt habe. Sie sei für ihn der lebende Beweis, dass die Region Teil Europas sei. „Jeder Migrant, der seinen Fuß auf den Boden Montenegros oder eines anderen Westbalkan-Staates setzt, hat zuvor bereits die Grenze der EU überquert“, sagte Österreichs Außenminister, der überzeugt ist, dass die Migrationswelle künftig anwachsen werde.

Eine Einschätzung, die Krastev ebenfalls teilte: Die Pandemie habe die Flüchtlingsbewegung gebremst, doch sie werde wieder an Fahrt aufnehmen. „Junge Menschen, vorwiegend aus Afrika, werden versuchen, in Länder zu gelangen, die reich sind und in denen es Arbeit gibt.“ Gleichzeitig werde der Abzug der US-Amerikaner aus Afghanistan ebenfalls eine Migrationswelle verursachen. Man könne die Region daher nicht allein lassen, denn alles, was dort schieflaufe, werde an der österreichischen Grenze zu spüren sein, so Schallenberg. „Möchten Sie sich in diesem Fall nicht auch mit den Ländern des Westbalkans koordinieren?“, fragte Krastev. Beide wiesen in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle der Türkei hin: Sie sei jenes Land, das mit mehreren Millionen Menschen momentan die meisten Flüchtlinge beherberge und „gute Arbeit leiste“.

Es könnte allerdings wieder passieren, dass der türkische Präsident Recep Erdoğan Migration als Druckmittel benutze, um Vorteile zu erzielen. Dazu Schallenberg: „Wenn die Türkei eine rote Linie überquert, dann müssen wir sehr klar darauf reagieren. Ich bin sehr glücklich, dass die Staats- und Regierungschefs entschieden haben, dass es – sollte das passieren – Sanktionen gegen die Türkei geben wird.“ Das sei auch unter dem Gesichtspunkt interessant, dass die Türkei ein wichtiges Nato-Mitglied sei.

Kontakte mit der Region

Diese Aspekte, aber auch die Folgen der Pandemie in der Region sowie das Generationenproblem, die Krastev in seinem Impulsreferat (siehe Artikel rechts) thematisiert habe, seien ein Anlass, sich in der Region mehr zu engagieren, so Schallenberg. Ein Beispiel dafür seien regelmäßige Kontakte mit Politikern in Ost- und Südosteuropa. Er selbst stehe mit diesen in regelmäßigem Kontakt. „Es ist manchmal erstaunlich, wie wenig man miteinander redet – selbst innerhalb der EU“, sagte Schallenberg. Er selbst sei etwa alle drei oder vier Monate in Belgrad, Skopje oder Tirana. Er bemühe sich, seine Ministerkollegen aus anderen EU-Staaten davon zu überzeugen, seinem Beispiel zu folgen, Gespräche zu führen und vor Ort zu reisen, um einen Eindruck aus erster Hand von der jeweiligen Situation zu gewinnen. „Wir müssen in allen Teilen Europas diese Region besser verstehen“, sagte der Außenminister.

Lexikon

Westbalkan

Der Begriff wurde als Terminus technicus auf dem EU-Gipfel im Dezember 1998 in den Sprachgebrauch der Europäischen Union eingeführt. Er bezeichnet diejenigen südosteuropäischen Staaten, die nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens das nächste strategische Erweiterungsziel der EU darstellen.

Berliner Prozess

Der Berliner Prozess ist eine 2014 ins Leben gerufene Initiative von 16 europäischen Ländern, darunter auch Österreich. Er unterstützt die Annäherung der Westbalkan-Länder an die EU und deren EU-Beitritt sowie die Intensivierung der regionalen Zusammenarbeit.

Non-Paper

Das inoffizielle und unsignierte diplomatische Diskussionspapier hat im Frühling hohe Wellen geschlagen: Grund dafür war die darin vorgeschlagene Grenzziehung nach Ethnien. Vorgesehen waren unter anderem die Vereinigung von Kosovo und Albanien sowie die Aufteilung von Bosnien und Herzegowina.

Zögerliches Vorgehen

Dass die Erweiterung um den Westbalkan zögerlich vorangehe, liegt ihm zufolge aber auch daran, dass die bisherige EU-Osterweiterung auf beiden Seiten noch nicht ganz „verdaut“ wurde. „Europa ist noch nicht wirklich zusammengewachsen. Das ist der Schatten, der über dem westlichen Balkan liegt“, erläuterte Schallenberg. Es sei naiv gewesen zu glauben, dass sich mit dem EU-Beitritt in diesen Ländern alles ändern werde. „Der Transformationsprozess ist dort noch im Gange“, so Österreichs Außenminister. Der Osten und Südosten des Kontinents seien in der Entwicklung wahrscheinlich lebendiger als der Westen. Und vielfältiger als im Westen oft angenommen, ergänzte Krastev. Eine Einschätzung, die Schallenberg teilt: „Wir sehen ihn nicht als modernen, monolithischen Block, in dem alles gleich ist. Wir wissen um die Unterschiede und Brüche.“

Er erteilte weiters der Ansicht, dass es sich bei den Westbalkan-Staaten um die Peripherie Europas handle, eine Absage. „Blicken Sie auf eine Landkarte und Sie werden sehen, dass Südosteuropa, dass der Westbalkan der Patio Europas ist“, bekräftigte Schallenberg. Die Region sei von EU-Mitgliedsstaaten umgeben.

Schallenberg rief dazu auf, die EU-Erweiterung nicht als bürokratisch-legistischen Prozess anzusehen, sondern als politisches Unterfangen, um den „europäischen Way of Life“ zu exportieren.

Fantasien sind gefragt

Weiters regte er an, die südosteuropäischen Staaten schrittweise zu integrieren. „Wir haben so etwas noch nicht gemacht, aber wir müssen Fantasien entwickeln und innovativ sein. Wenn wir weitere zehn oder 15 Jahre warten, haben wir sie verloren“, ist der Diplomat überzeugt. Auch die Amerikaner sollten in der Region mehr eingebunden werden – etwa nach Vorbild des Berliner Prozesses.

Sowohl Europa als auch die USA investieren Milliarden Euro in die Region, aber es wird darüber nicht miteinander gesprochen. „Wir sollten beginnen, unsere finanziellen Aktivitäten in der Region zu koordinieren“, meinte Schallenberg, der dabei an die europäische und amerikanische Zusammenarbeit in den 1990er-Jahren erinnerte. Diese sollte auch unter dem Aspekt möglicher bewaffneter Konflikte in der Region geschehen. Derzeit bestehe zwar kein Risiko, doch auszuschließen seien sie für die Zukunft nicht.

„Das sogenannte Non-Paper zur Neuziehung von Grenzen am Westbalkan und die emotionalen Reaktionen darauf in einigen Hauptstädten wie beispielsweise Tirana oder Belgrad haben gezeigt, dass es noch offene Wunden gibt“, meinte Schallenberg abschließend.

Information

Der Europakongress 2021 ist eine Veranstaltung von „Die Presse“ und wird von Erste Group unterstützt.

Mehr Informationen: www.diepresse.com/europakongress

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