Afghanistan

Das Drama vom Flughafen Kabul: Menschen fallen aus großer Höhe von Militärflugzeug

Menschen versuchen in Kabul mit allen Mitteln, Platz in den ausfliegenden Maschinen zu finden.
Menschen versuchen in Kabul mit allen Mitteln, Platz in den ausfliegenden Maschinen zu finden.(c) APA/AFP/WAKIL KOHSAR (WAKIL KOHSAR)
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Mehrere Aufnahmen sorgen in sozialen Medien für Entsetzen. Menschen klammern sich an eine riesige Militärmaschine und stürzten kurz nach dem Start in den Tod. US-Soldaten erschossen außerdem zwei bewaffnete Männer.

Auf einem verwackelten Handyvideos ist zu sehen, wie Hunderte Menschen über ein Rollfeld laufen. Auf einem anderen klettern sie übereinander auf das Gangway eines geparkten Flugzeugs. Ein drittes zeigt eine US-Militärmaschine, an deren Flanke sich beinahe ein Dutzend Männer geklammert hat. In einem vierten fliegt ein US-Transporter ab: Nach ein paar Sekunden ist ein dunkler Fleck zu sehen, der vom Flugzeug aus auf den Boden stürzt. Es soll einer der Menschen sein, die versucht haben, sich an der Außenhülle festzuhalten.

Was genau am Montag am Hamid-Karzai-International-Airport von Kabul passiert ist, wird vielleicht nie vollends aufgeklärt werden. Doch die Bilder und Berichte, die aus dem Norden der afghanischen Hauptstadt kommen, könnten dramatischer nicht sein: Sie zeigen Menschen, die mitten im Chaos des Umsturzes um ihr Leben laufen.

Ein nahe dem Flughafen lebender Afghane berichtet der Deutschen Presseagentur, ein Mann sei aus der Luft auf sein Haus gefallen. Augenzeugen berichten von fünf Toten. Auf dem Flughafen wurde geschossen, das ist auf den Handyvideos zu hören. Ob dabei auch Menschen getroffen oder getötet wurden, war am Montag noch unklar.

US-Soldaten auf dem Flughafengelände in Kabul sollen unterdessen jedenfalls zwei bewaffnete Männer getötet haben. Diese hätten ihre Waffen „auf bedrohliche Weise geschwungen“, sagte ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Das Pentagon spricht von sieben Toten am Flughafen, darunter auch jene Personen, die vom amerikanischen Transportflugzeug in die Tiefe gestürzt sind.

Der Flughafen im Nordosten der afghanischen Hauptstadt wird vom US-Militär und türkischen Nato-Truppen gesichert. Er ist die Fluchtroute für Botschaftsmitarbeiter, westliche Staatsbürger, afghanische Hilfskräfte, die alle bangen, noch einen Flieger aus dem Land zu bekommen, das in den vergangenen Tagen von den islamistischen Extremisten Taliban eingenommen wurde.

Rollfeld-Sturm und einziger Ausweg

Bereits am Sonntag begann beispielsweise Deutschland damit, sein Botschaftspersonal auf den Hamid-Karzai-Airport zu verlegen, obwohl deren Evakuierungs-Flieger erst für Montag erwartet wurde. Die Flucht der westlichen Staatsbürger brachte Tausende Afghanen dazu, am Montagmorgen den Flughafen aufzusuchen. Im Laufe des Vormittags eskalierte die Lage: Menschen kletterten über die Flughafenmauern, rannten auf die Rollfelder und die dort wartenden Maschinen zu.

Der Luftweg aus Afghanistan ist mittlerweile nur noch mithilfe der Maschinen der meist westlichen Militärs möglich, der Flughafen von Kabul strich am Montag alle kommerziellen Flüge. Deutsche Offiziere sorgen sich aber laut „Spiegel“ ob sie überhaupt landen können, sollten wieder Tausende Menschen die Start- und Landepisten belagern.

Hamas gratuliert Taliban zur Machtübernahme

Die im Gazastreifen regierende radikalislamische Hamas hat den Taliban am Montagabend zu ihrem "Sieg" in Afghanistan gratuliert. Er sei das "Ergebnis ihres langen Kampfes der vergangenen 20 Jahre", erklärte die palästinensische Gruppe am Montag. Die Hamas wünsche "dem afghanischen Volk und seiner Führung Einheit, Stabilität und Wohlstand".

Der Sieg der Taliban mache deutlich, dass "der Widerstand der Völker", auch des palästinensischen Volkes, "zum Sieg bestimmt" sei. Die palästinensische Hamas wird von westlichen Ländern und Israel als "terroristisch" eingestuft.

Taliban holen größte Afghanistan-Flagge des Landes ein

In der afghanischen Hauptstadt Kabul haben die Taliban nach ihrer faktischen Machtübernahme inzwischen die größte Fahne des Landes mit der Landesflagge eingeholt. Das zeigten Fernsehbilder am Montag. Die Fahne war ein Geschenk Indiens und war erstmals 2014 am Wazir-Akbar-Khan-Hügel gehisst worden, einer Anhöhe im Zentrum der Stadt. Sie galt als eine Art Wahrzeichen, war ein beliebtes Fotomotiv und konnte von Weitem gesehen werden.

Am Wazir-Akbar-Khan-Hügel ist auch der ehemalige Präsident Burhanuddin Rabbani begraben, der 2011 bei einem gezielten Selbstmordanschlag getötet worden war. Auf dem Hügel gibt es zudem ein Schwimmbad mit Sprungturm, das von den Sowjets erbaut worden war. Zur Zeit der Taliban-Herrschaft hatten diese den Sprungturm und das Schwimmbad für Exekutionen genutzt. Es war unklar, ob dort demnächst eine Taliban-Flagge gehisst werden sollte.

Gespannte Ruhe in der Stadt

In den Straßen von Kabul war es unterdessen ruhig. Geschäfte und Cafés blieben geschlossen. Taliban-Kämpfer besetzten überall in der Hauptstadt Polizeistationen und andere Behördengebäude. Sie begannen damit, Kontrollposten zu errichten und Waffen von Zivilisten einzusammeln. Die Menschen benötigten diese Waffen nicht mehr zu ihrem persönlichen Schutz, sagt ein Taliban-Vertreter dazu.

Aus dem Gesundheitsministerium hieß es in einer Erklärung vom Montag, der amtierende Gesundheitsminister Wahid Madschroh habe sich mit der Gesundheitskommission der Taliban getroffen. Demnach bedankten sich beide Seiten für die Gesundheitsdienstleistungen in dem jeweils von der anderen Seite kontrollierten Gebiet. Der von den Taliban vorgesehene Gesundheitsminister habe alle Mitarbeiter des Gesundheitsbereiches - Männer wie Frauen - dazu aufgerufen, ihre Aufgaben im gesamten Land wieder aufzunehmen.

„Der Krieg im Land ist vorbei"

Die radikal-islamischen Taliban hatten nach ihrer überraschend schnellen Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul die Kämpfe für beendet erklärt und zeigen sich gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft gesprächsbereit. "Der Krieg im Land ist vorbei", sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender Al Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Zum weiteren Vorgehen äußerte sich Naim überraschend versöhnlich: man wolle mit allen Beteiligten Frieden, schütze afghanische Persönlichkeiten und diplomatische Vertretungen und suche den Dialog mit der Staatengemeinschaft. Erwartet worden war, dass die Taliban hart gegen Gegner vorgehen.

Noch vor wenigen Tagen hatte es in einer Einschätzung der US-Geheimdienste geheißen, Kabul könne noch mindestens drei Monate gehalten werden. Doch dann rückten die Extremisten offenbar ohne nennenswerten Widerstand vor. Am Sonntag besetzten sie nach eigenen Angaben in Kabul den Palast von Präsident Ashraf Ghani, der zuvor ins Ausland geflohen war.

Scharia als Rechtssystem - doch Suche nach Dialog

Taliban-Sprecher Naim sagte, man wolle Frieden mit allen Beteiligten. Sorgen der internationalen Gemeinschaft wollten die Taliban im Dialog lösen. Der Kontakt zu anderen Staaten werde gesucht, da man nicht in Isolation leben wolle. "Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen." Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen.

Der Politbüro-Chef der Taliban, Mullah Abdul Ghani Baradar, erklärte in einer Videobotschaft, nun folge die wirkliche Bewährungsprobe, bei der die Erwartungen der Menschen erfüllt und ihre Probleme gelöst werden müssten. Kritiker von Joe Biden erklärten, das Chaos sei durch eine schlechte Führung des US-Präsidenten verursacht worden. Biden wiederum warnte die Taliban vor Übergriffen auf Amerikaner. Jede Aktion, die diese in Gefahr brächten, werde "mit einer schnellen und starken militärischen US-Reaktion beantwortet".

Die USA und rund 60 weitere Länder - darunter Österreich - forderten unterdessen, Flughäfen und Grenzübergänge in Afghanistan müssten geöffnet bleiben. Jeder Ausreisewillige müsse das Land auch verlassen dürfen. Die Machthaber in Afghanistan trügen die Verantwortung für den Schutz von Menschenleben und die sofortige Wiederherstellung von Sicherheit und bürgerlicher Ordnung.

Ghani setzte sich mutmaßlich nach Taschkent ab

Präsident Ghani schrieb auf Facebook, er habe das Land verlassen, um Blutvergießen zu vermeiden. Wie Al Jazeera unter Berufung auf einen seiner Leibwächter berichtete, war Ghani auf den Weg in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Nach Angaben der russischen Botschaft in Kabul floh Ghani mit vier Wagen und einem Hubschrauber voller Geld aus dem Land. "Vier Autos waren voll mit Geld. Sie versuchten, einen weiteren Teil des Geldes in einen Hubschrauber zu stopfen, aber es passte nicht alles hinein. Und ein Teil des Geldes blieb auf der Rollbahn liegen", zitiert die russische Nachrichtenagentur RIA Botschaftssprecher Nikita Ischtschenko.

Viele Afghanen befürchten, die Taliban könnten mit der Rückkehr an die Macht erneut eine sehr strenge Auslegung des islamischen Rechts durchsetzen. Die Islamisten hatten Afghanistan bereits von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen Ende 2001 beherrscht. In einer Erklärung hatten sie ihren raschen Vormarsch in den vergangenen Wochen als Beleg für ihre Akzeptanz in der Bevölkerung gewertet.

(Red./Ag.)

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