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"Martin Eden": Die Leiden des Proleten-Parvenüs

Luca Marinelli als Titelheld von "Martin Eden".
Luca Marinelli als Titelheld von "Martin Eden".(c) Filmladen
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„Martin Eden“ verpflanzt Jack Londons Bildungsroman aus den USA nach Neapel. Der italienische Kino-Renegat Pietro Marcello erklärt im Gespräch mit der „Presse“, warum.

Wussten Sie, dass einer der erfolgreichsten Autoren der Sowjetunion ein US-Amerikaner war? Und zwar kein Unbekannter, sondern einer, der es in den Vereinigten Feindesstaaten zu Ruhm und Reichtum gebracht hatte – mit Bestsellern wie „Ruf der Wildnis“ und „Wolfsblut“. Lange Zeit erreichte Jack Londons Werk in Russland beachtliche Auflagen. Anders als in seinem Herkunftsland fanden dort nicht nur seine Tier- und Abenteuergeschichten Anklang: Auch Londons autobiografisch grundierter Künstlerroman „Martin Eden“ (1909) wurde begeistert aufgenommen. Für Wladimir Majakowski war es ein prägendes Buch: Der Polit-Dichter hegte den Plan, ein Filmskript daraus zu machen. 1976 wurde der Stoff sogar fürs sowjetische Fernsehen adaptiert. Vielen Zuschauern war er als Jugendlektüre vertraut.

Der Grund für seine Popularität hinter dem Eisernen Vorhang? Sein universeller Charakter, meint der italienische Regisseur Pietro Marcello im „Presse“-Interview: „Diese Geschichte eines unterprivilegierten Autodidakten, der sich Bildung erkämpft und Lehrjahre des Gefühls durchläuft, könnte überall spielen.“ Marcellos eigene Adaption feierte 2019 in Venedig Premiere. Am Freitag startet sein Film coronaverzögert in heimischen Kinos. Sie versetzt die Erzählung vom sozialen Aufstieg und moralischen Verfall eines ehrgeizigen Seemanns von Kalifornien nach Neapel – und sucht trotz des historischen Settings Bezüge zur Gegenwart.

Ein Mann von der Straße als Ego-Opfer

Die sowjetische Sichtweise des Sujets ist Marcello, einem erklärten Verehrer russischer Filmgeschichte, nicht fremd. „Martin Eden ist ein Antiheld. Aus kommunistischer Perspektive verkörpert er die Schattenseiten des Individualismus.“ Eden mausert sich aus dem proletarischen Nichts zum gefeierten Homme de lettres, getrieben von der Liebe zu einer Tochter aus gutem Hause. Dabei verrät er seine Herkunft, seine Klasse – und muss schließlich verbittert zugrunde gehen. London sah sich als Sozialist, er legte Eden als abschreckendes Beispiel an. Marcello steht indes dem Anarchismus näher: Errico Malatesta, ein Freund Bakunins, lächelt am Anfang von „Martin Eden“ aus einer Archivaufnahme. „Ich bin für das Individuum. Aber das Prinzip des Teilens sollte die Basis unserer Gesellschaft bilden.“

Mit 20 las Marcello Londons Buch zum ersten Mal – „ohne es zu verstehen“, wie er sagt. 20 Jahre später keimte die Idee, es zu verfilmen. Ein ambitioniertes Projekt für den Italokino-Außenseiter, der mit unabhängig produzierten Doku-Essays und mythisch unterfütterten Fabelfilmen Bekanntheit erlangte. „Martin Eden“ ist als fiktionale Filmbiografie eine vergleichsweise konventionelle Arbeit, die jedoch entscheidende Aspekte von Marcellos frei fließender Bildsprache bewahrt. Etwa die Bindung der Filmwelt an konkrete (Dreh-)Orte – auch über historisches Bildmaterial, das hier aufbrandet wie der Wellengang eines Erinnerungsstroms. Über den neorealistischen Grundgestus der körnigen 16-mm-Film-Ästhetik. Und über die bewusste Verunklärung des zeitlichen Rahmens: Die Aura prachtvoller Fin-de-Siècle-Kulissen wird im Film immer wieder von anachronistischen Details unterwandert.

Neu ist hingegen die verstärkte Präsenz von Profischauspielern. Eden wird von Luca Marinelli („The Old Guard“) mit ruppigem Sturm-und-Drang-Charme in Szene gesetzt, Carlo Cecchi („Stealing Beauty“) gibt seinen abgeklärten Bohème-Mentor. Die Spontaneität seines Zugangs hat sich Marcello aber erhalten, wie er sagt: „Das Drehbuch bleibt für mich immer unvollständig.“

Weitung der poetischen Perspektive

Längst ist Marcello nicht mehr der einzige italienische Regisseur, der diese „unreine“ Form kultiviert: Seine befreundete Landsfrau Alice Rohrwacher („Lazzaro Felice“) brachte sie sogar schon in den Cannes-Wettbewerb. Die Dokumentaristen Alessio Rigo de Righi und Matteo Zoppis ließen heuer mit „Re Granchio“ aufhorchen, ein aus regionalen Legenden geflochtenes Wunderding ohne klare Gattungszugehörigkeit.

Sie alle eint ein poetischer Blick, der Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fantasie zu bündeln versucht, um der durch viele Krisen geschwächten Vorstellungskraft der Filmbranche Italiens neue kreative Aussichten zu eröffnen. Insofern ist Marcellos „Martin Eden“ Lehrstück und Zukunftsvision zugleich. Den Filmemacher erinnert die hedonistisch-narzisstische Hauptfigur an Influencer von heute. Eden ist fasziniert von Herbert Spencer, einem Vordenker des Sozialdarwinismus: „In diesem Gedankengut wurzeln viele Verbrechen des 20. Jahrhunderts, jene Hitlers, jene Stalins. Heute wird er nicht zuletzt von Souveränisten geschätzt, die Europa als Staatengemeinschaft ablehnen.“ Entsprechend endet Marcellos Film mit der dunklen Vorahnung eines möglichen Krieges: „Wir haben nicht ausreichend aus der Geschichte gelernt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2021)

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