Während der mittelalterlichen Schreckensherrschaft der Taliban bis 2001 durften Frauen alleine nicht das Haus verlassen. Nun verkündet die Taliban, dass Frauen studieren dürften. Für Regierungsbeamte gelte eine Generalamnestie.
Es war die erste offizielle Stellungnahme der Taliban seit der Machtübernahme in Kabul am Wochenende. Und es waren die neuen Töne, die auch Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid am Dienstag in der afghanischen Hauptstadt anschlug.
Die radikal-islamischen Taliban haben nach ihrer Machtübernahmen in Afghanistan eine Generalamnestie für alle Regierungsmitarbeiter verkündet. Der Vizechef der Taliban wies seine Kämpfer überdies an, keine Privathäuser in Kabul zu betreten. Die Taliban forderten die afghanischen Regierungsbeamten am Dienstag auf, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. "Sie sollten mit vollem Vertrauen in Ihren Alltag zurückkehren", hieß es in einer Erklärung. Der Vizechef der Taliban wies seine Kämpfer an, keine Privathäuser in Kabul zu betreten.
Unter keinen Umständen sollte irgendjemand in die Häuser von Menschen gehen oder ihre Fahrzeuge mitnehmen, hieß es in einer vom lokalen TV-Sender ToloNews veröffentlichten Audionachricht, die dem Taliban-Vizechef Mullah Jakub zugeschrieben wurde. Sollte dies ein Beamter oder eine Einzelperson tun, sei das ein "Verrat am System" und man ziehe sie zur Rechenschaft.
Ministerien werden übernommen
Die Taliban übernehmen auch immer mehr Behörden und Ministerien in der Hauptstadt. Es seien viele seiner Kollegen zur Arbeit gekommen, aber keine Frauen. Lokale Medien veröffentlichten Fotos, auf denen zu sehen war, dass auch Verkehrspolizisten wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrten. Bewohner der Stadt sagten, es würden wieder vermehrt Geschäfte geöffnet haben und Menschen auf der Straße sein. Mujahid versichere seinen Landsleuten, auch jenen, die in Opposition zu den Islamisten gestanden hätten, dass eine allgemeine Amnestie gelte.
Sie gelte auch für ehemalige Übersetzer von ausländischen Streitkräften. Man habe auch alle Soldaten begnadigt, die in den vergangenen Jahren mit ihnen gekämpft hätten, sagte Mujadhid weiter. Auf eine Frage nach dem Tod vieler unschuldiger Zivilisten sagte er, das sei ohne Absicht passiert.
„Alle werden einen Anteil haben"
Mujahid versicherte zudem, dass die Sicherheit von Botschaften und der Stadt Kabul gewährleistet sei. Niemandem würde in Afghanistan etwas passieren. Das Chaos in Kabul der vergangenen Tage rühre von der Unfähigkeit der ehemaligen Regierung. Der Taliban-Sprecher versprach zudem die Einbeziehung auch anderer Kräfte in eine neue Regierung. "Wenn die Regierung gebildet wird, werden alle einen Anteil haben", sagte er. "Wir haben Afghanistan in elf Tagen eingenommen", sagte er. Die Islamisten seien jedoch nicht für Macht hier, sondern um eine islamische Regierung aufzubauen. Ihre Kämpfer dürften private Häuser nicht betreten.
Wie genau in Zukunft das Land geführt werden soll, wie eine Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll, ist noch unbekannt. Laut Sprecher Mujahid arbeitet die Taliban-Führung gerade "ernsthaft" daran.
Nach ihrem rasanten Eroberungszug und der Flucht des Präsidenten Ashraf Ghani haben die Taliban am Sonntag die Macht im Land de facto übernommen. Viele Afghanen befürchten eine Rückkehr der Schreckensherrschaft der Islamisten der 1990er-Jahre, während der etwa Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren und die Vorstellungen der Islamisten mit barbarischen Strafen durchgesetzt wurden.
Frauen sollen an Universitäten dürfen
Dem Taliban-Sprecher zufolge bekennt sich das islamische Emirat zu den Rechten von Frauen innerhalb der Scharia, dem islamischen Recht. Da die afghanischen Frauen Muslimas seien, würden sie auch froh sein, innerhalb des Rahmens der Scharia zu leben, sagte Mujahid bei der Pressekonferenz. Die Frauen in Afghanistan hätten das Recht, unter anderem an Bildung und der Gesundheitsversorgung teilzuhaben.
Der Sprecher hat außerdem in Aussicht gestellt, dass Mädchen und Frauen auch nach der Machtübernahme der Islamisten in Afghanistan weiterhin Schulen und Universitäten besuchen dürfen. "Ja, sie können Bildung und höhere Bildung in Anspruch nehmen, das bedeutet auch Universitäten", bestätigte der Taliban-Vertreter Suhail Shaheen am Dienstag auf Nachfrage in einem Fernsehinterview mit dem britischen Sender Sky News.
Die Frage, ob von Frauen in Afghanistan künftig erwartet werde, dass sie sich verschleierten und Burka trügen, verneinte der Sprecher. Ein Hijab, also ein Kopftuch, würde hingegen erwartet. "Das ist zu ihrer eigenen Sicherheit", ergänzte der Taliban-Vertreter. Nach der Machtübernahme der Taliban wird eine massive Verschlechterung der Menschenrechtslage im Land erwartet, insbesondere für Frauen und Mädchen.
Überrascht zeigten sich Bewohner der Stadt darüber, dass der populäre Fernsehsender ToloNews am Dienstag seine bekannte Moderatorin durch das Programm führen ließ, die auch einen Taliban-Vertreter interviewte. ToloNews schickte auch eine Reporterin durch Kabul, um live über die Situation in der Stadt zu berichten.
Mittelalterliches Regime bis 2001
In Afghanistan haben die militant-islamistischen Taliban ab Mitte der 1990er einen islamischen Gottesstaat errichtet. Mit ihrer Schreckensherrschaft kehrten in dem Land mittelalterliche Zustände ein, bis zum Einmarsch der westlichen Truppen 2001.
Frauen durften nicht mehr arbeiten und nur noch verschleiert mit einer Burka und in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus verlassen. In der Öffentlichkeit war für sie lautes Sprechen oder Lachen verboten. Das Fotografieren und Filmen von Frauen war untersagt. Mädchen wurden vom Schulunterricht ausgeschlossen. Männer mussten Turban und langen Bart tragen. Die Sittenpolizei verprügelte diejenigen auf offener Straße, die gegen diese Regeln verstießen.
Strenge Auslegung der Scharia
Die Willkürherrschaft in Afghanistan kannte keine klaren Gesetze und einklagbaren Rechte. Vergehen wurden mit Auspeitschungen geahndet, Dieben die Hand abgehackt. Homosexuelle wurden gesteinigt. Mörder wurden von den Verwandten ihrer Opfer exekutiert. Afghanen, die zu einer anderen Religion wechselten oder diese propagierten, konnten hingerichtet werden. Die Taliban untersagten den Gebrauch des Internets - etwa weil dort Obszönitäten, Unmoral und Propaganda gegen den Islam verbreitet würden, wie es hieß. Auch Fernsehen, Musik und Tanzen waren verboten.
Die Milizen verfolgten ihre Gegner rigoros. Der frühere Präsident Mohammed Najibullah etwa wurde nach der Eroberung Kabuls aus einem UN-Gebäude verschleppt und öffentlich hingerichtet.
Massenhinrichtungen von Minderheiten
Andere Religionen und Kulturen hatten für die Taliban keinen Wert: Ein UN-Report von 1998 berichtete etwa von Massenhinrichtungen von schiitischen Hasara, einer ethnischen Minderheit, dazu brutale Folterungen und Vergewaltigungen. Die Hindu-Minderheit im Land wurde zum Beispiel gezwungen, ein gelbes Kennzeichen auf der Brust zu tragen - angeblich um nicht mehr von der Sittenpolizei wegen zu kurzer Bärte und fehlender Turbane belästigt zu werden.
In Erinnerung bleibt auch die Zerstörung zweier berühmter, in den Fels gehauener Buddha-Statuen im März 2001. Die 55 und 38 Meter hohen Bildnisse aus vor-islamischer Zeit in der Bamian-Provinz hatte die Unesco als einzigartiges Gut des Welterbes eingeschätzt. Für den Obersten Rat der Taliban waren sie unislamisch.
Es ist unklar, ob die Taliban heute gleich regieren werden, wie damals. Sie besprechen derzeit, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben und wer sie führen wird. Insgesamt geben sie sich jüngst sehr versöhnlich. Beobachter bezweifeln, dass diese weiche Linie bleibt. Schließlich ist die Scharia das Rechtssystem auf der das System der Taliban fußt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es eine Art Richtungsstreit der Islamisten geben wird und die restriktiveren Kräfte stärker werden. Vorerst steht Afghanistan auch noch im grellen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit.
(APA/dpa)