Die „New York Times“ berichten, die Geheimdienste hätten schon vor einer baldigen Taliban-Übernahme der afghanischen Hauptstadt gewarnt, als US-Präsident Biden noch erklärte, dies sei höchst unwahrscheinlich.
Kurz bevor Kabul am Wochenende in die Hände der Taliban fiel, machte ein angeblicher Geheimdienstbericht die Runde: Die Hauptstadt würde in 30 bis 90 Tagen von den Islamisten übernommen. Zwei Tage später war es bereits passiert.
Doch wie die „New York Times“ schreibt, soll US-Präsident Joe Biden von der bevorstehenden Machtübernahme informiert gewesen sein - und das zu einem Zeitpunkt, als er und seine Berater öffentlich noch davon gesprochen hatten, dass es höchste unwahrscheinlich sei, Kabul demnächst an die Taliban zu verlieren.
Im Juli seien die Geheimdienstberichte allerdings immer pessimistischer geworden. Am 8. Juli dementierte der US-Präsident noch, dass es chaotische Evakuierungen von US-Amerikanern gebe wie am Ende des Vietnam-Kriegs.
Als schon Dutzende Bezirke in der Hand der Taliban waren, soll einer dieser Berichte aufgezeigt haben, dass die afghanische Regierung auf einen Angriff gar nicht vorbereitet wäre. So erzählt es zumindest eine Geheimdienst-nahe Quelle der „New York Times“. Das wirft die Frage auf, warum wiederum die US-Streitkräfte nicht besser vorbereitet waren. Womöglich gab es andere Berichte, die einen optimistischeren Blick auf die Lage gaben.
Als die US-Amerikaner ihren Rückzug beschlossen - lange vor Juli - war man offenbar der Ansicht, dass sich die afghanische Regierung zwei Jahre an der Macht halten könne, was wiederum ausreichend Zeit für einen geordneten Rückzug ermöglicht hätte.
Eine historische Analyse, die dem US-Kongress vorgelegt wurde, kommt zu dem Schluss, dass die Taliban aus den Fehlern der Machtübernahme in den 1990er-Jahren gelernt hätten. Dieses Mal hätten die Islamisten zuerst die Grenzübergänge gesichert, dann die Provinzhauptstädte erobert und weite Teile des Nordens eingenommen, bevor sie sich um die Hauptstadt Kabul kümmerten.
Rückzug ohne Bedingungen
Joe Biden war schon als Obamas Vizepräsident ein Gegner des Afghanistan-Einsatzes. Nach seinem Einzug ins Weiße Haus brütete er monatelang über das weitere Vorgehen. Kurz vor dem Ablauf der Frist im Doha-Abkommen kündigte er dann im April seine Entscheidung an: Die USA würden ihre Truppen spätestens bis zum 11. September 2021 - dem 20. Jahrestag der Terroranschläge - vollständig aus Afghanistan abziehen, und zwar bedingungslos. Nato-Verbündete wie Deutschland wollten einen Abzug an Erfolge bei Friedensverhandlungen knüpfen. Auch US-Experten rieten von einem bedingungslosen Abzug ab.
Im Juli kündigte der Demokrat an, Ende August werde Schluss sein mit dem Einsatz. Die Taliban allerdings waren schneller. Seit ihrer faktischen Machtübernahme ist Bidens Versprechen Makulatur, die afghanische Regierung auch nach dem Truppenabzug zu unterstützen. "Ich weiß, dass meine Entscheidung kritisiert werden wird", sagt Biden bei seiner Ansprache am Montag im Weißen Haus. "Aber lieber stecke ich all diese Kritik ein, als diese Entscheidung an einen weiteren Präsidenten der Vereinigten Staaten weiterzugeben."
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>> Der Artikel der „New York Times"
(Red.)