Die Islamisten suchen ehemalige Piloten und Soldaten der afghanischen Streitkräfte für einen Neuaufbau der Armee. Außerdem arbeiten die Taliban an einem neuen Führungsrat, der schon bald die Regierung übernehmen soll. Es werde keine Demokratie sein, sagten Taliban-Vertreter
Die radikal-islamistischen Taliban wollen ehemalige Piloten und Soldaten der afghanischen Streitkräfte für einen Neuaufbau der Armee gewinnen. Die Taliban bräuchten vor allem Piloten, weil sie selbst keine hätten, aber ihnen bei der blitzartigen Eroberung des Landes nach dem Abzug der ausländischen Truppen Hubschrauber und Flugzeuge in die Hände gefallen seien, sagte Wahidullah Hashimi, ein mit den Entscheidungsprozessen vertrauter Taliban-Vertreter am Mittwoch.
Es werde zwar einige Veränderungen und Reformen in der Armee geben. "Aber wir brauchen sie und werden sie auffordern, sich uns anzuschließen", so Hashimi zu Reuters. "Die meisten von ihnen haben eine Ausbildung in der Türkei, Deutschland und England absolviert. Wir werden also mit ihnen reden, damit sie auf ihre Positionen zurückkehren", sagte Hashimi. Zudem würden die Taliban Nachbarländer auffordern, Militärflugzeuge zurückzugeben, mit denen Soldaten geflohen seien.
Taliban-Führungsrat könnte Regierung übernehmen
Afghanistan könnte einem ranghohen Taliban-Vertreter zufolge ähnlich wie bei der vorherigen Herrschaft der militanten Islamisten künftig von einem Führungsrat regiert werden. Das letzte Wort werde wahrscheinlich aber weiterhin Taliban-Chef Mullah Haibatullah Akhundzada als geistliches und politisches Oberhaupt haben, sagte Wahidullah Hashimi, der in die Entscheidungsprozesse der radikal-islamischen Bewegung eingebunden ist. Aber es werde keine Demokratie sein.
Akhundzada werde womöglich die Position des Ratschefs einem seiner drei Stellvertreter überlassen, die der eines Staatspräsidenten ähneln dürfte, hieß es gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Viele Fragen bezüglich der Art und Weise, wie die Taliban Afghanistan regieren werden, seien noch nicht endgültig geklärt, sagte Hashimi.
Die von Hashimi skizzierte Machtstruktur ähnelt der Herrschaft der Taliban zwischen 1996 und Ende 2001, bevor sie nach den Anschlägen vom 11. September durch eine von den USA geführte Allianz gestürzt wurden. Damals hielt sich Oberhaupt Mullah Omar im Hintergrund und überließ die alltäglichen Regierungsgeschäfte einem Rat.
Tote bei Protesten in Jalalabad
Bei gegen die Taliban gerichteten Protesten in Jalalabad in Afghanistan sind am Mittwoch mindestens drei Menschen gestorben. Dutzende wurden verletzt, teilten Augenzeugen und ein früherer Polizeivertreter mit. Die Taliban hatten das Feuer bei Protesten eröffnet, als Einwohner der Stadt versuchten, die Landesflagge zu hissen. Zuvor hatte es Berichte über Verletzte bei einer Massenpanik am Flughafen Kabul gegeben.
Nach Angaben eines NATO-Vertreters wurden bei der Massenpanik bei einem Tor zum Flughafen in Kabul 17 Menschen verletzt. Der Vertreter, der nicht namentlich genannt werden wollte, erklärte, er habe keine Hinweise auf Übergriffe von Taliban-Kämpfern außerhalb des Flughafens.
Chaos am Flughafen Kabul
Rund um den Flughafen in Kabul harrten Hunderte Menschen aus, berichteten Augenzeugen der dpa. Kinder, Frauen und Männer hielten sich in den Straßen um das Flughafengelände auf. Viele hätten dort auch übernachtet. Afghanische Zivilsten seien aufgefordert worden nicht zum Flughafen zu kommen, es sei denn, sie hätten einen Reisepass und ein Visum. Am Mittwoch hieß es, das US-Militär entscheide abhängig von der jeweiligen Lage über Öffnung und Schließung bestimmter Zugänge zum Flughafen.
Unklar war, ob es neben Evakuierungsflügen am Mittwoch auch wieder kommerzielle Flüge gab oder geben sollte. In den vergangenen 24 Stunden wurden nach Angaben eines westlichen Informanten rund 5.000 Diplomaten, Sicherheitskräfte, Entwicklungshelfer und Afghanen aus Kabul evakuiert. Jedoch mehren sich Zweifel, dass möglichst alle Ortskräfte aus dem Land gebracht werden können, die westlichen Ländern geholfen haben und mögliche Racheakte der Taliban fürchten.
Deutsche und französische Evakuierungsflüge
Deutschland und Frankreich schickten bereits Evakuierungsflüge nach Afghanistan. Laut deutschem Verteidigungsministerium wurden bisher über 500 schützenswerte Personen ausgeflogen. Weitere Flüge der Bundeswehr seien in Planung. Die deutsche Regierung beschloss am Mittwoch zudem einen bis September dauernden Einsatz von bis zu 600 Bundeswehrsoldaten für die Evakuierungsaktion in Kabul.
In ersten Gesprächen mit den militant-islamistischen Taliban über die Evakuierung afghanischer Ortskräfte hat die deutsche Bundesregierung aber zunächst keine Ergebnisse erzielt. "Wir haben bisher keine belastbaren Sicherheitszusagen, dass die Taliban afghanische Staatsangehörige frei zum Flughafen passieren lassen", sagte Außenminister Heiko Maas am Mittwochabend nach einer Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung in Berlin.
Maas hatte am Dienstag den Afghanistan-Experten Markus Potzel nach Doha im Golfemirat Katar geschickt, um mit Unterhändlern der Taliban über die Ortskräfte zu sprechen. Der Diplomat, der ursprünglich im August als neuer Botschafter nach Afghanistan entsandt werden sollte, führte am Mittwoch erste Gespräche, die nun am Donnerstag fortsetzt werden sollen.
Frankreich flog in der Nacht auf Mittwoch weitere 216 Menschen aus Afghanistans Hauptstadt Kabul aus. An Bord der zweiten französischen Maschine ins Golf-Emirat Abu Dhabi waren neben 184 Afghanen und 25 Franzosen auch Menschen aus den Niederlanden, Kenia und Irland, wie Außenminister Jean-Yves Le Drian in Paris mitteilte. Eine erste Gruppe von 41 Franzosen und anderen Staatsangehörigen war bereits am Dienstag in Paris gelandet.
Militärmaschinen aus Tschechien und Polen brachten ebenfalls Menschen aus Afghanistan am Mittwoch in Sicherheit. Italien will eine Luftbrücke zur Evakuierung von Menschen aus Afghanistan einrichten.
Chaos hatte zuvor das Ausfliegen niederländischer Ortskräfte verhindert. "Es ist schrecklich. Viele standen mit ihren Familien vor den Toren des Flughafens", sagte Außenministerin Sigrid Kaag. Ein mit anderen nordeuropäischen Ländern gemeinsam betriebenes Militärflugzeug habe Kabul deshalb nahezu leer wieder verlassen müssen.
Ex-Präsident Ghani in Emiraten
Der vor den Taliban geflohene afghanische Präsident Ashraf Ghani hält sich samt seiner Familie in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf. Das bestätigte das Außenministerium des Golfstaates. Er werde "aus humanitären Gründen im Land willkommen geheißen". Nach Angaben der russischen Botschaft in Kabul vom Montag war Ghani mit vier Wagen und einem Hubschrauber voller Geld aus Afghanistan geflohen.
Gespräche gab es indes zwischen den Taliban und Ex-Präsident Hamid Karzai. Auch das ranghohe Mitglied der bisherigen Regierung, Abdullah Abdullah, sei bei dem Treffen dabei gewesen, sagt ein Taliban-Vertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte. Auf Taliban-Seite habe der Anführer der Haqqani-Gruppe, Anas Haqqani, teilgenommen. Details zu den Gesprächen nannte der Taliban-Vertreter nicht. Es sei noch zu früh zu sagen, ob die Taliban in ihre neue Regierung auch Mitglieder früherer Regierungen einbeziehen würden, erklärt er. Karzai war von 2001 bis 2014 afghanischer Präsident.
In Afghanistan hielt sich indes das Misstrauen gegenüber den neuen Machthabern - trotz der Versprechen der Taliban, auf Racheakte zu verzichten und Frauenrechte innerhalb islamischer Gesetze zu respektieren. Die Frauen-Aktivistin Pashtana Durrani sagte Reuters: "Sie müssen ihren Worten Taten folgen lassen. Im Moment tun sie das nicht." Die Taliban bekräftigten erneut, sie seien bereit, Beziehungen zu ausländischen Staaten aufzubauen. Ihre Führer würden aus dem Schatten treten und sich der Welt zeigen, kündigte ein Sprecher an.
"Auch, wenn sich Medienberichten zufolge die Lage nach der Machtübernahme durch die Taliban scheinbar punktuell ein wenig beruhigt, die Situation ist weiterhin höchst volatil und für weite Teile der Bevölkerung lebensgefährlich", warnte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, in einer Aussendung am Mittwoch. "Diese Menschen den Taliban auszuliefern, ist ein absolutes No Go." "Hilfe vor Ort bedeutet momentan vor allem offene Fluchtwege, eine adäquate Versorgung der Geflüchteten in den Nachbarstaaten und die sofortige Evakuierung all jener, die um ihr Leben fürchten müsse", so die Sprecherin.
Die Außenminister der NATO-Staaten kommen am Freitag zu einer außerordentlichen Videokonferenz zusammen, um über die Lage in Afghanistan zu beraten. Das teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch auf Twitter mit. Dadurch solle die "enge Abstimmung" fortgesetzt und das gemeinsames Vorgehen erörtert werden, hieß es. Die militant-islamistischen Taliban haben innerhalb kurzer Zeit die Macht in Afghanistan übernommen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte am Mittwoch eine Fortsetzung der Hilfe für Afghanistan. Nachhaltige humanitäre Hilfe einschließlich medizinischer Hilfslieferungen sei für Millionen Afghanen eine "Lebensader" und dürfe nicht unterbrochen werden, erklärte die WHO. Das Gesundheitssystem in Afghanistan sei durch Monate der Gewalt und einen Mangel an Mitteln zum Kampf gegen die Corona-Epidemie angeschlagen.
Laut WHO wurden in den Monaten Jänner bis Juli 26 medizinische Einrichtungen in Afghanistan angegriffen und zwölf Mitarbeiter des Gesundheitssystems getötet. Deutschland, Finnland und Schweden wollen vorerst keine Entwicklungshilfe mehr leisten.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte am Mittwoch mit, dass sie ihre medizinischen Projekte in fünf afghanischen Provinzen fortsetzt. Zu den Standorten zählen Herat, Helmand, Kandahar, Chost und Kunduz, in denen rund 2.400 Mitarbeitende der Organisation arbeiten. Nach dem Ende der Kämpfe sei die Zahl der Patienten deutlich angestiegen, erklärte Ärzte ohne Grenzen. Insbesondere in regionalen Krankenhäusern in Kunduz, Kandahar und Lashkar Gah werde eine hohe Zahl von Kriegsverletzten behandelt.
(APA, Reuters, red.)