Nach der Machtübernahme der afghanischen Taliban steigt in Europa die Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle. Die Anrainerstaaten auf der Balkanroute sind kaum gewappnet. Viel hängt davon ab, wie sich die Türkei verhält.
Die Schreckensbilder aus Afghanistan wirken fern, aber sind den Bewohnern der Balkanstaaten doch merkwürdig vertraut. Die Aufnahmen von in Panik und in Todesangst flüchtenden Menschen rufen in den ex-jugoslawischen Staaten nicht nur traumatische Erinnerungen an das blutige Kriegsjahrzehnt der 90er Jahre wach. Auch der Massenexodus der endlosen Kolonnen von syrischen Kriegsflüchtlingen über die sogenannte Balkanroute vor fünf Jahren ist den Anrainerstaaten in unguter Erinnerung geblieben.
Von einer „neuen Gefahr für den Balkan“, schreibt beunruhigt die Belgrader Tageszeitung „Blic“ nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul: „Droht Serbien eine neue Migrationskrise?“ Im Ton gelassener, aber ähnlich besorgt blickt im benachbarten Bosnien und Herzegowina der Direktor der Ausländerbehörde Slobodan Ujic den kommenden Monaten entgegen: „Nach all dem, was wir in Afghanistan sehen, ist es natürlich, einen erhöhten Zustrom von Migranten zu erwarten.“
Von geschlossener Balkanroute kann keine Rede sein
Hunderttausende waren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 auf einem offenen Flüchtlingskorridor von Griechenland bis Österreich nach Mitteleuropa gelangt. Seit der offiziellen „Schließung“ der Balkanroute im März 2016 haben sich die Grenzhürden für die Transitflüchtlinge zwar vermehrt. Aber die Zahl der über die sich ständig ändernde Balkanroute nach Westen strebenden Grenzgänger ist in den vergangenen fünf Jahren erstaunlich konstant geblieben.
Seit 2016 gelangten „kontinuierlich“ 30 000 bis 40 000 Flüchtlinge pro Jahr nach Serbien, berichtet Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz von Asylsuchenden in der Hauptstadt Belgrad. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres zogen auf ihrem Weg nach Westen geschätzte 27000 Transitmigranten durch den Balkanstaat – rund 150 pro Tag. 38 Prozent von ihnen sind Afghanen: Ihre Zahl dürfte sich bald vermehren.