Innenminister Nehammer ist über die Forderung der EU-Kommission verärgert, sichere und legale Fluchtrouten aus Afghanistan nach Europa zu schaffen.
Wien/Brüssel. Die Meinungen könnten nicht weiter auseinander liegen: Zwischen Brüssel und Wien ist ein handfester Streit über die Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan ausgebrochen. Am frühen Donnerstag machte Innenminister Karl Nehammer seinem Ärger via Aussendung Luft: Er erwarte sich eine „sofortige Klarstellung und Gewissheit darüber, dass die EU-Kommission die Meinung der Mitgliedstaaten vertritt.“
Was war passiert? Innenkommissarin Ylva Johansson hatte bei einem virtuellen Sondertreffen der Innenminister am Mittwochnachmittag auf legale und sichere Fluchtrouten aus Afghanistan in die EU gedrängt.
Die Lage in dem von den Taliban eroberten Land sei alles andere als sicher, zudem seien 80 Prozent der zur Flucht gezwungenen Frauen und Kinder. Besonders gefährdete Menschen müssten deshalb sobald wie möglich in EU-Länder umgesiedelt werden. Die Kommission könne bei der Koordination des – für jeden Mitgliedstaat freiwilligen – Resettlements unterstützend tätig werden. „Wir sollten nicht warten, bis diese Menschen an unserer Außengrenze stehen. Wir müssen ihnen schon vorher helfen“, betonte die Kommissarin vor den 27 Ressortchefs der Mitgliedstaaten.
Nehammer will das nicht gelten lassen. „Das ist das völlig falsche Signal“, wetterte der Minister in Anbetracht des gefürchteten „Pull Faktors“. Stattdessen müsse die EU in der Region die Botschaft verbreiten, dass Schutz und Hilfe vor Ort unterwegs seien.
Der ÖVP-Politiker weigert sich vehement, weitere Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Österreich beherberge mit aktuell 44.000 die– gemessen an der Bevölkerung – zweitgrößte afghanische Community in der EU. Er habe gehofft, so Nehammer weiter, dass auch die EU-Kommission aus dem großen Flüchtlingsjahr 2015 etwas gelernt habe.
Einige EU-Länder – Griechenland und Dänemark etwa – stehen in dieser Frage an der Seite Österreichs, andere – wie Luxemburg – üben an dem rigiden Kurs der Regierung scharfe Kritik. Einig ist man sich lediglich darüber, dass weiterer Gesprächsbedarf besteht: Schon in den kommenden Tagen soll ein weiteres Treffen zur erwarteten Fluchtwelle aus Afghanistan einberufen worden – diesmal wohl auf Ebene der Staats- und Regierungschefs.
Lob und Entsetzen
Für Kopfschütteln sorgt in Brüssel auch das von der ÖVP ausgegebene Mantra, abgelehnte kriminell gewordene Asylwerber weiter nach Afghanistan abschieben zu wollen – was faktisch ohnehin unmöglich ist. Johansson ist strikt dagegen. „Es ist dort nicht sicher“, wiederholte sie.
Nehammer ließ bei der Videokonferenz am Mittwoch deshalb mit der Idee so genannter „Abschiebezentren“ in den afghanischen Nachbarregionen aufhorchen. „Dort, wo die Europäische Menschenrechtskonvention Grenzen setzt, muss es Alternativen geben“, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter – und erntete dafür in den Kommentaren Lob wie tiefes Entsetzen. (aga)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2021)