Naschmarkt-Blues: Ohne Arbeitswut der Immigranten kein Wiener In-Treff

Das Ausländerthema verhalf der FPÖ zum Sieg bei der Gemeinderatswahl. Viele Wähler lehnen die „fremden“ Geschäfte in ihrem Bezirk ab. Wer lange und viel arbeitet, nervt offenbar.

Ein uralter Witz geht so: Gott gibt einem amerikanischen Farmer und einem österreichischen Bauern einen Wunsch frei. Der Farmer hätte gerne den doppelten Viehbestand und die dreifache Ernte. Der Österreicher mit einer Kuh und einem Nachbarn mit zwei Stück Vieh wünscht, dass des Nachbarn zweite Kuh verendet.

Daran wurde man nach der Gemeinderatswahl in Wien erinnert, als der ORF auszog, um in Simmering und anderen Bezirken mit hohem Migranten- und FPÖ-Stimmenanteil Straßenbefragungen zum Wählerwillen zu machen. Mehr als einmal hörte man Klagen über lästige Ausländer, die im Bezirk auch noch ihre eigenen Geschäfte hätten. Was für eine Unverfrorenheit!

Um gleich kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die Probleme in den Schulen und Wohngegenden sind real. Sie sollen keinesfalls kleingeschrieben werden. Sie wären beherrschbar, würde die Stadt Wien mehr in Lehrer und Lösungen investieren.

Hier geht es aber – und da taucht die Witz-Erinnerung auf – um die Ablehnung der wirtschaftlichen Aktivitäten vieler Ausländer und Neu-Österreicher in dieser Stadt. Gewiss, die Bewohner von Simmering profitieren zum Beispiel kaum vom Höhenflug des Wiener Naschmarktes. Sie gehören nicht zu den Kunden der ultrapopulären Fressmeile dort.

Tatsache ist jedoch, dass der Wiener Naschmarkt von den Türken, Serben, Kurden oder kroatischen Fischhändlern erst zu dem gemacht wurde, was er heute ist: der In-Treff auch von so manchen Älteren, die sich gerne als bürgerlich bezeichnen und ihre neoliberale Einstellung nur durch gewollte Amnesie mit ihrer Härte in der Ausländerfrage in Einklang bringen können. In Wahrheit müssten sie den Boom begrüßen. Er zeugt von Unternehmertum. Es waren nämlich nur die Ausländer, die vor Jahren nicht Punkt 18 Uhr und am Samstag um 12 Uhr die Rollbalken heruntergelassen haben.

Mit den längeren Öffnungszeiten kamen die Kunden – deshalb die Restaurants und Wirtshäuser. Der Satz „Treffen wir uns am Naschmarkt“ hat heute die Bedeutung der legendären Sirk-Ecke in Karl Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit“. Ohne die hart arbeitenden, ihre Geschäfte lange offenhaltenden Immigranten gäbe es den In-Treff heute nicht. Was das mit Simmering zu tun hat? Jedenfalls die Schizophrenie, von den Geschäftspraktiken der Immigranten zu profitieren, gleichzeitig aber von ihrer Lebensweise so genervt zu sein, dass sich Ausländerfeindlichkeit politisch bezahlt macht.

Türken, Serben, Kroaten stehen auch am Sonntag in ihren Geschäften, falls das Brot ausgegangen ist. Das erhöht auch die Lebensqualität der Österreicher in der Umgebung. Und keinesfalls bedeutet „die Begegnung mit Türken und Migranten aus Ex-Jugoslawien in der Regel eine Einschränkung der Lebensqualität“, wie dies Ulrich Brunner in der „Presse“ am Dienstag schrieb. Das Gegenteil ist wahr, weil angebliche Analphabeten und Bildungsunwillige ihre Läden offenhalten.

Es ist allerdings zu befürchten, dass so mancher Österreicher am Sonntag beim Immigranten einkauft und ihn am Montag anzeigt. Denn Kammern haben mit Mehrleistung in Österreich auch nicht viel im Sinn. Der eine oder andere Österreicher könnte sich ja auch die Mühe eines eigenen kleinen Ladens antun, 60 und mehr Stunden pro Woche dort arbeiten und nicht genervt die Schließung des Migrantenladens verlangen.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2010)

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