Ungarn: Die tägliche Herbergsuche der Schlammflut-Opfer

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bdquoWo schlaefst Ferildquo ndash(c) REUTERS (LASZLO BALOGH)
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Aus der Alu-Fabrik in Kolontár floss viel mehr Giftschlamm aus als befürchtet. Die Bürger fühlen sich im Stich gelassen. Vielen Betroffenen ist kaum etwas von ihrer Habe geblieben. Sie retten, was zu retten ist.

[Devecser]In den Nächten wird es bitterkalt in Devecser. Es ist acht Uhr abends, das Roma-Ehepaar Ferenc und Julika Kolompár sitzt auf Nadeln. Noch immer wissen sie nicht, wo sie die Nacht verbringen werden. Die beiden stehen im Vorraum des realsozialistischen Kulturhauses von Devecser, wo sich Berge von Mineralwasserflaschen stapeln, die mit den Hilfslieferungen kamen.

„Seit sieben Uhr früh sind wir auf den Beinen, um ein Nachtquartier zu bekommen“, bricht es aus Ferenc heraus. Seine Frau fährt wütend fort: „Gestern war es genauso. Wir konnten erst nach Mitternacht in der Sporthalle eine Schlafstelle finden.“ So wie mehr als zweihundert andere Familien in Devecser haben auch Ferenc und Julika kein Dach über dem Kopf. Am Montag vergangener Woche hatte jene Schlammflut, die aus einem leck gewordenen Auffangbecken einer Aluminiumfabrik über die Ortschaft geschwappt war, auch ihr Heim überschwemmt und unbewohnbar gemacht.

Angst vor einem „Zigeunerghetto“

Das Haus muss nun abgerissen werden, wie die meisten anderen Häuser auch, die in Devecser vom ätzenden Rotschlamm überflutet wurden. Was ihnen geblieben sei? Ferenc greift sich an die Jacke: „Alles, was ich anhabe, ist mit den Hilfslieferungen gekommen. Wir haben gar nichts mehr.“ Zoltán, der Nachbar des Ehepaars, mischt sich ins Gespräch. Seine erste Frage ist symptomatisch für die derzeitige Situation in Devecser: „Wo wirst du heute Nacht schlafen, Feri?“ Auch Zoltán hat noch keinen Schlafplatz. Die Nacht zuvor hatte er in seinem Kleinbus verbracht. „Nur war es dort eisig kalt.“

Ferenc glaubt zwar, dass für die Opfer der Schlammflut tatsächlich neue Häuser gebaut werden, doch es schwant ihm nichts Gutes: „Ich habe so den Verdacht, dass für die Zigeuner eine eigene Wohnsiedlung gebaut wird. Es wird hier ein Zigeunerghetto geben, da bin ich mir sicher.“ Von den rund 6000 Einwohnern gehören etwa zehn Prozent zur Roma-Minderheit. Viele sind sogenannte „Entrümpelungszigeuner“, die bei Entrümpelungen und Tändelmärkten in Österreich und Deutschland ihre Kleinbusse und Anhänger vollladen und das importierte Gerümpel in Ungarn zu Geld machen.

Sechzehn Leute auf zehn Matratzen

Da taucht eine der Töchter der Kolompárs auf. Sie hat eine gute Nachricht: In der Schule gebe es noch Schlafplätze. Bevor sie gehen, bemerkt Julika noch: „Hoffentlich gibt es dort mehr Matratzen. Letzte Nacht mussten wir zu sechzehnt auf zehn Matratzen schlafen.“ Sie und ihr Mann greifen sich noch je eine Mineralwasserflasche – und verschwinden in die Nacht.

Stunden zuvor im Kulturhaus von Devecser: Unter der Leitung von Bürgermeister Tamás Toldi wird ein Bürgerforum abgehalten. Viele tragen wegen der hohen Staubkonzentration, die vom getrockneten Rotschlamm verursacht wird, Schutzmasken. Nicht wenige haben rote Flecken und Spuren am Gewand. Der Bürgermeister macht die Versammelten darauf aufmerksam, dass die Verteilung der Hilfspakete von jetzt an „streng reglementiert“ werde. Denn es sei mehrfach Missbrauch getrieben worden, sagt er. Zudem betont der Bürgermeister, dass Kleidung ab sofort nicht mehr verteilt werde. Seine Begründung: „Was bisher geschickt wurde, ist schlechteste Qualität.“

Während des Bürgerforums kommt auch der Vertreter eines deutschen Energieunternehmens zu Wort. Er versichert den Leuten, dass seine Firma bei den Zahlungen der Gas- und Stromrechnungen zumindest bis März nachsichtig sein werde. Eine NGO-Vertreterin wiederum erklärt den Versammelten, dass etliche Banken darauf aus seien, die Notlage der Kreditnehmer in Devecser auszunutzen und Kreditverträge zu kündigen, um sich die Immobilien der Leidtragenden unter den Nagel zu reißen. Ein Raunen geht durch den Saal. Wer also einen Kredit laufen habe, solle keine voreiligen Schritte setzen und ja nichts unterschreiben.

Ein sichtlich angetrunkener Mittfünfziger redet sich in Rage, weil sein Haus, das bei der Schlammflut unversehrt geblieben ist, wegen der Aufräumarbeiten Schäden davongetragen habe. Der Mann wird von einem der Versammelten abrupt mit dem Zwischenruf unterbrochen: „Deine Problemchen möchten wir haben!“ Der Bürgermeister versucht, die erhitzten Gemüter zu beruhigen.

Seit Jahren Hinweise auf Mängel

József Ékes, Abgeordneter der konservativen Regierungspartei Fidesz, hält sich seit der Schlammflut im Katastrophengebiet auf. Ékes, zu dessen Wahlkreis Devecser gehört, hat nach eigenen Worten bereits vor Jahren auf den desolaten Zustand der Auffangbecken hingewiesen. Den Unfall führt er unter anderem darauf zurück, dass unter den sozialistischen Vorgängerregierungen (2002–2010) die Industrie-Aufsichtsbehörde systematisch hinters Licht geführt worden sei.

Ékes, der in Gummistiefeln und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln dasteht, will auch wissen, dass nicht eine Million Kubikmeter Rotschlamm ausgeflossen sei, wie Medien berichteten, sondern mindestens 1,5 Millionen. Die Wucht der Schlammlawine veranschaulicht Ékes am Beispiel zweier Todesopfer, die Tage nach der Katastrophe geborgen wurden – mehr als drei Kilometer vom Wohnort entfernt.

Auf einen Blick

Eine Lawine aus giftigem Rotschlamm verwüstete am 4. Oktober mehrere Dörfer in Westungarn. Ursache war das geborstene Auffangbecken einer Aluminiumfabrik. Neun Menschen starben direkt bei dem Unglück oder in den Tagen danach, 150 wurden verletzt. Offenbar hat die Firma frühere Hinweise auf ein Leck unterdrückt. Mittlerweile wurden Aluminiumrückstände bereits im kroatischen Abschnitt der Donau entdeckt, angeblich aber in unschädlicher Konzentration.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2010)

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