Unternehmergeist. Johann Gsöllpointner und Josefine Thom gründeten 2019 das Label MOB für adaptive Mode mit Designanspruch.
Adaptive Fashion

Mode für Menschen mit Behinderung

Adaptive Mode nimmt auf die individuellen Wünsche von behinderten Menschen Rücksicht. Ihre Gestaltung kann sich als Teil von Heilungsprozessen herausstellen.

Als eine Art „Chippendales-Move“ beim Ausziehen beschreibt Josefine Thom prägnant jene Bewegung, mit der man sich im Nu und nur einhändig eines mit Magnetverschluss versehenen Hemds entledigen kann – kein Wunder, dass dieses Modell zu den Menswear-Verkaufsschlagern ihrer Marke MOB Industries zählt. Die Zielgruppe sind allerdings in diesem Fall nicht professionelle Sixpack-Performer wie die erwähnten Chippendales, sondern Menschen mit Behinderung, denen solche ausgeklügelten Verschlusslösungen ihr Alltagsleben erleichtern. Das Segment, in dem sich Josefine Thom und ihr Geschäftspartner Johann Gsöllpointner seit der Firmengründung 2019 bewegen, wird als Adaptive Fashion bezeichnet: Der „adaptive“ Charakter dieser Bekleidung besteht im Konkreten darin, dass sie sich individuell an die Wünsche und Bedürfnisse von körperlich und/oder kognitiv beeinträchtigten Menschen anpassen soll.

Anna Breit

Selbstbestimmt

Während das weite Feld der Mode eher von einem Überangebot als einer Knappheit des Offerierten gekennzeichnet wird und die meisten der sogenannten Modehandelnden – also alle, die bewusst ihre Kleiderwahl als Alltagshandlung setzen möchten  – eher über die Qual einer zu großen Auswahl klagen, stellt sich die Situation für Menschen mit Behinderung anders dar. Für sie ist es häufig schwierig, passende, funktionale Bekleidung zu finden, die sie außerdem als ästhetisches Zeichen ihrer Selbstbestimmung und -inszenierung setzen können. Menschen mit Behinderung stellen in der Textilbranche eine Zielgruppe dar, die bislang nur selten explizit bedient wurde. Und das Angebot, das es etwa für Anwenderinnen von Prothesen oder Rollstuhlfahrer gibt, hat meist nicht den Anspruch, durch ausgefallenes Design überzeugen zu wollen.

Anna Breit


„Einen großen Trend zu mehr gestalterischem Anspruch in der Bekleidung für Menschen mit Behinderung habe ich in den vergangenen dreißig Jahren nicht bemerkt“, sagt Günther Stelzmüller, der 1990 die alle zwei Jahre stattfindende Messe Integra in Wels initiierte. „Grundsätzlich finde ich jede neue Initiative in der Mode super; ich habe aber leider viele Versuche aufflammen und wieder verglühen gesehen“, fügt er hinzu. Aufgrund des unzureichenden Angebotes habe Stelzmüller, wie er meint, im Lauf der Jahre viele Menschen kennengelernt, die „ihre größeren Anschaffungen nach dem Rhythmus der Integra takten“. Und doch scheint in der jüngeren Vergangenheit Bewegung in den Bereich der adaptiven Mode gekommen zu sein.

Beigestellt

Ziel der Unternehmerinnen oder Designer, die sich des Themas annehmen, ist größere Selbstbestimmtheit im Sinne eines bewussten Modehandelns ermöglichen zu wollen. Die Nähe zu und der intensive Austausch mit den Betroffenen sind unverzichtbar, um praktikable Lösungen anbieten zu können. Josefine Thom etwa wuchs mit einer älteren Schwester auf, die motorisch und kognitiv eingeschränkt ist. Was für sie an Bekleidung zur Verfügung stand, sei, so Thom, völlig unzufriedenstellend gewesen.

„Auf unseren Kinderfotos waren wir anfangs noch gleich angezogen, weil dieselbe Kleidung meist allen Kindern passt. Je älter wir wurden, desto schwieriger wurde es. Das Angebot für meine Schwester wurde kleiner, der Anziehprozess schwieriger“, erinnert sie sich. „Da geht es nicht nur um Rollstuhlnutzerinnen, sondern den Schwerpflegebereich. Das schwierigste Kleidungsstück war die Winterjacke; da hatte man wirklich den Eindruck, dass bei der Gestaltung ausschließlich an Seniorinnen gedacht wurde.“ Zugleich habe auch die Funktion oft zu wünschen übrig gelassen, Klettverschlüsse etwa führten zwangsläufig dazu, dass unter der Jacke getragene Strickpullis schnell kaputt wurden.

Beigestellt

Wachstumsmarkt

Bei MOB Industries wurden von Anfang an lokale Gastdesigner eingeladen: Die Labels Moto Djali, GON und Ferrari Zöchling entwarfen bisher Kapselkollektionen, parallel entsteht ein permanentes Angebot für Menschen mit Behinderung und ihre sogenannten Companions: „Unser Anspruch ist es, ein inklusives Design anzubieten, das Rollstuhlnutzerinnen und -nutzer anspricht, aber eben auch ihre Companions. Das spiegelt sich auch im wachsenden Interesse, das an unserem Angebot besteht“, so Thom. Der Begrifflichkeit der „Inklusion“ steht sie aber skeptisch gegenüber, da sie häufig „als eine Mogelpackung gebraucht“ werde. „Ich finde den Begriff überpädagogisiert – auch in unserer Community fühlen sich viele nicht angesprochen. Die sagen dann oft sinngemäß, wir sind wie die Raucher am Pausenhof, und ihr habt uns abgeholt.“

Nicht nur im Avantgardesegment besteht wachsende Nachfrage: Einer amerikanischen Marktanalyse zufolge soll das globale Handelsvolumen für adaptive Mode in den kommenden sechs Jahren von 250 auf 294 Milliarden US-Dollar ansteigen. Eine der möglichen Ursachen ist die Implementierung des 2008 von den Vereinten Nationen beschlossenen Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welches unter anderem die zunehmende Integration in das Berufsleben vorsieht. Begleitend dazu wächst die Notwendigkeit, adäquate Businessbekleidung vorzufinden.

»„Wenn ein 18-Jähriger mit Querschnittlähmung ausgeht, will er gut aussehen – und da reicht der Rolli eben nicht aus.“ «

Günther Stelzmüller

Nicht nur ein Trend

Nach der Parkinson-Erkrankung ihres Vaters vor acht Jahren stieß Monika Dugar, mittlerweile Absolventin des London College of Fashion, auf das Thema der adaptiven Mode. Sie setzte sich für ihre Diplomkollektion mit Bekleidung für Rollstuhlnutzende und Personen mit motorischer Einschränkung ausei­nander. Das von ihr und ihrer Schwester Usha Dugar Baid gegründete Label Reset erfuhr zuletzt ebenfalls große Aufmerksamkeit. „Bekleidung spielt eine wichtige Rolle darin, dass man mit Behinderung ein gutes Leben führen kann. Wegen der eingeschränkten Motorik kann die Kleiderwahl sich empfindlich auf die Funktionalität im Alltagsleben auswirken“, sagt Monika Dugar. Die auffälligen Muster, die sie für ihre Kollektion entwarf, beziehen sich auf eine Studie aus dem Jahr 1999 zum Thema visuelle Steuerbarkeit von Bewegungsmustern bei Parkinson-Erkrankten durch grafische Linien.

Monika Dugar, die sich eingehend mit den Erfordernissen adaptiver Mode und dem weiten Feld des sogenannten Design Thinking auseinandersetzte, ist sich sicher, dass auch etablierte Modemarken das Thema verstärkt aufgreifen werden. „Das Designen für Menschen mit einer Behinderung ist kein Trend, sondern schlicht eine Notwendigkeit“, unterstreicht sie. Von Tommy Hilfiger etwa gibt es bereits eine Adaptive-Kapselkollektion; Nike brachte zuletzt einen Turnschuh auf den Markt, der sich ohne Bücken und freihändig anziehen lässt.

Marco Milic

Messbarer Nutzen

Ein zentraler Punkt für viele Betroffene ist die Übernahme der Kosten durch Versicherungsträger. Hier sei, betonen etwa Thom und Gsöllpointner, die Lage in Deutschland besser als in Österreich. Ein ansatzweiser Lifestyle-Charakter von Produkten würde zum Teil sogar der Erstattbarkeit entgegenarbeiten. „Nicht einmal wenn jemand einen Arbeitsunfall hat und über die AUVA bestmöglich versorgt wird, ist es möglich, designte Kleidung erstattet zu bekommen“, bestätigt Integra-Gründer Günther Stelzmüller. Mehr Sensibilität gebe es seit längerer Zeit bei der Personalisierung von Rollstühlen, wo eine Basisausstattung vorgesehen ist, zusätzliche Design- oder technologische Features von den Nutzerinnen und Nutzern selbst übernommen werden. „Einer unserer Kunden hat zu mir gesagt: ,Ich will endlich einmal geiler aussehen als mein Rollstuhl‘“, bringt Josefine Thom die Diskrepanz zwischen den beiden Bereichen auf den Punkt.

»„Design könnte nicht nur subjektiv das Wohlbefinden steigern, sondern auch messbar
Heilungsprozesse unterstützen.“ «

Walter Lunzer


Wie wichtig Aspekte der Gestaltung für Menschen mit Behinderung sein können, betont auch der Mode­designer Walter Lunzer, der an der Universität für angewandte Kunst lehrt und sich seit zwölf Jahren in der Entwicklungsabteilung von Otto Bock mit der Entwicklung von Prothesen beschäftigt. „Ich bin überzeugt davon, dass Prothesen früher oder später einen ähnlichen Status erlangen werden wie Brillen oder Fahr­räder. Dank neuer Technologien und Materialien wird sich viel tun, sodass auch designte Modelle standard­mäßig angeboten werden können“, sagt Lunzer. Schon jetzt gebe es viele Möglichkeiten, die aber häufig die Grenze des von Krankenkassen Erstattbaren sprengen. Sensibilisierung im Bereich der Orthopädietechnik, über die künftige Anwenderinnen und Anwender an ihre Prothesen herangeführt werden, findet Walter Lunzer wichtig: „Auf die Idee, nach dem Gestaltungsaspekt zu fragen, müssen Anwender ja erst einmal kommen.“

Dass Bewegung in die Frage der Erstattbarkeit durch Versicherungsträger kommen könnte, sieht Lunzer nicht als unmöglich an. „Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften legen nahe, dass Design nicht nur subjektiv das Wohlbefinden steigert, sondern es auch eine messbare therapeutische Indikation gibt. Sobald erwiesen ist, dass Design einen Heilungsprozess unterstützt, gibt es dann die medizinische Indikation, die auch für Erstatter entscheidend ist“, erlaubt sich der Experte einen optimistischen Blick in die Zukunft. 

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