Falsifiziert: Contergan-Skandal

Der Contergan-Skandal war für die Pharmaindustrie ein regelrechter Super-GAU. Man hat daraus gelernt und strenge Regeln bei der Zulassung eingeführt.

Für die Pharmaindustrie war es der Super-GAU schlechthin: Im Zuge des „Contergan-Skandals“ wurden um das Jahr 1960 etwa 5000 bis 10.000 Kinder mit schweren Missbildungen geboren – wie viele schon während der Schwangerschaft verstorben sind, ist unbekannt. Heute leben allein in Deutschland rund 2800 Menschen und in Österreich dreizehn Contergan-geschädigte Menschen – also häufig mit verkürzten Armen oder Beinen.

Dabei hatte alles so erfreulich begonnen: Der deutsche Medikamentenhersteller Grünenthal hat zufällig den Wirkstoff Thalidomid entdeckt, der sich in Versuchen als gut verträgliches Beruhigungs- und Schlafmittel erwies. Die Substanz schien eine perfekte Alternative zu barbiturathaltigen Mitteln zu sein, die leberschädigend und süchtig machend sind. Die Hersteller bewarben das Mittel, das ab 1.Oktober 1957 als „Contergan“ oder „Softenon“ verkauft wurde, mit Slogans wie „Ein Augenblick voll natürlicher Harmonie lässt uns wünschen, dass die Sekunde sich dehne“. Die immer wieder betonte Ungefährlichkeit und gute Verträglichkeit führte dazu, dass auch viele schwangere Frauen Contergan nahmen, um Unruhezustände und Schlafprobleme zu bekämpfen. Das Medikament wurde ein Welterfolg, allein in Deutschland schluckten 700.000 Menschen die Pillen.

Ärzten fiel aber rasch eine Häufung bestimmter Fehlbildungen auf: Menschen kamen mit verkürzten oder fehlenden Gliedmaßen oder ohne Ohren auf die Welt. Erst nach einigen Jahren konnten unabhängig voneinander drei Arbeitsgruppen in Australien, Großbritannien und Deutschland eine Verbindung zu Contergan herstellen. Am 27. November 1961 wurde das Medikament vom Markt genommen.

Was war hier schiefgelaufen? In einem Gerichtsverfahren wurde dem Hersteller zugebilligt, bei der Markteinführung nichts falsch gemacht zu haben. Damals gab es kein strenges Arzneimittelzulassungsverfahren, wie es heute selbstverständlich ist, es galt das Prinzip der Selbstüberwachung. Mit den vorgeschriebenen Versuchen wurde die schädigende Wirkung von Contergan nicht gefunden – damals war der Begriff „teratogen“ (fruchtschädigend) auch de facto unbekannt. Zwischen Klägern und dem Hersteller wurde ein Vergleich geschlossen, es wurde ein Hilfsfonds eingerichtet, in den auch der Staat einzahlt.

Der Wirkstoff Thalidomid ist allerdings nicht völlig verschwunden, er hat in den letzten Jahren sogar eine Renaissance erlebt. Und zwar für andere Indikationen – etwa Lepra oder bestimmte Krebsarten. Die heutigen strengen Sicherheitsbestimmungen zum Schutz des ungeborenen Lebens helfen leider nicht immer: In Brasilien z.B. kommen auch heute noch „Contergan-Kinder“ zur Welt.

martin.kugler@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2010)

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