Massenproteste: Frankreich will nicht länger arbeiten

Frankreich will nicht laenger
Frankreich will nicht laenger(c) REUTERS (ERIC GAILLARD)
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Hunderttausende Franzosen haben sich am Samstag an den Massenprotesten gegen die Rente mit 62 beteiligt. Die Polizei fürchtet gewaltsame Ausschreitungen, Erinnerungen an den Mai 68 werden wach.

Tous ensemble, tous ensemble – Grève générale!“ Alle gemeinsam im Generalstreik vereint gegen Präsident Sarkozy? Der kämpferische Slogan kam in den Sprechchören bei der Pariser Großkundgebung vom Samstag gut an. Dennoch scheint die Forderung nach einem Generalstreik, mit dem die unnachgiebige Staatsführung in die Knie gezwungen werden soll, mehr dem Wunschdenken als den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen zu entsprechen.

Hunderttausende nahmen am Samstag an Protesten in rund 250 Städten teil. Zur Spannung tragen besonders die andauernden Streiks in den Erdölraffinerien und die Blockaden vor Treibstofflagern bei. Ähnliche Aktionen der Lkw-Fahrer-Gewerkschaften könnten die Angst vor Versorgungsengpässen Anfang kommender Woche noch verschärfen. Bereits für Dienstag haben die Gewerkschaften neue Streiks ausgerufen, sie sehen kein anderes Mittel zur Verteidigung gegen die Pläne der Regierung, das Pensionsantrittsalter von 60 auf 62 Jahre hinaufzusetzen. Wobei die Bevölkerung nicht grundsätzlich gegen eine Reform ist, aber laut Umfragen mit einer klaren Mehrheit die Vorschläge der Regierung ablehnt.

„In einer repräsentativen Demokratie wie in Frankreich sind außerhalb der Wahlen Demonstrationen die einzige Möglichkeit für die Bürger, sich politisch Gehör zu verschaffen“, erklärt der Politologe Olivier Fillieule die typisch französische Protestkultur: „In der gegenwärtigen Lage sind soziale Bewegungen und politische Proteste auch Ausdruck einer Vitalität der Demokratie. Sie widerlegen das Gejammer über ein Desinteresse oder eine mangelnde Beteiligung an der Politik.“

Zuerst wird in Frankreich immer gestritten und gestreikt und erst dann (vielleicht) diskutiert oder verhandelt. Das ist fast eine ungeschriebene Regel. Der in anderen Ländern übliche Sozialdialog wird durch die Kraftprobe ersetzt. Das darf nicht verwundern in einem Land, in dem die Revolutionen von 1789, 1830, 1848 und 1871 als Ecksteine der nationalen Geschichte gelten. In Frankreich existiert umgekehrt aber auch eine Krise der Repräsentation, die sich im Misstrauen der Bürger gegenüber Institutionen und allen Formen der Interessenvertretung äußert.

Bezeichnenderweise ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad mit nur acht Prozent einer der tiefsten in Europa. Oft sind es die besser organisierten Staatsbediensteten, wie auch jetzt wieder das Personal der staatlichen Bahn, die mit ihren häufigen und sehr wirksamen Streiks stellvertretend für andere Arbeitnehmer kämpfen.


Unbeirrt. Das weiß auch die Regierung. Sie ist überzeugt, dass sie diesen Kampf auf Biegen und Brechen gewinnen muss, auch wenn sie die öffentliche Mehrheit gegen sich hat. Dass sie ihre Vorlage mit einer Erhöhung des Pensionsalters um zwei Jahre unbeirrt vom starken Druck der Proteste und den Meinungsumfragen im Parlament verabschieden will, steigert sichtlich die Empörung vieler Demonstranten.

Das ist namentlich der Fall bei den Jüngsten, die oft zum allerersten Mal einen politischen Konflikt so direkt als Kraftprobe mit der Staatsführung erleben. Dass mehrere Regierungsmitglieder ihnen väterlich-wohlwollend geraten haben, sie sollten lieber brav zu Hause bleiben als mit unverantwortlichen Agitatoren auf die Straße zu gehen, hat die Mittelschüler provoziert. Seit Anfang der Woche hat sich die Schuljugend den Protesten angeschlossen. Oft suchen am Rand der improvisierten Schülerkundgebungen einige Hitzköpfe oder Provokateure die Auseinandersetzung mit den Ordnungskräften, die ebenfalls nicht zimperlich reagieren. Es gab mehrere Verletzte, in Lille und Lyon wurden zahlreiche Demonstranten und Randalierer festgenommen. Auch die Schülerorganisationen kennen das Risiko, das unkontrollierbare Gruppen von Jugendlichen darstellen, die mit den eigentlichen Anliegen gar nichts zu tun haben.


Angst vor einem neuen Mai 68. Auch für gestern fürchteten die Behörden gewaltsame Zwischenfälle. Der Innenminister hatte die Polizei angewiesen, mit Zurückhaltung zu reagieren. Die Ordnungskräfte waren beschuldigt worden, sie seien am Donnerstag in Montreuil bei Paris mit verantwortungsloser Brutalität gegen Jugendliche vorgegangen: Ein 16-Jähriger wurde von einem Hartgummigeschoss schwer verletzt und verlor ein Auge.

Nach den Mittelschülern könnten sich ab dieser Woche auch die Studierenden in Bewegung setzen. Nichts fürchtet Präsident Nicolas Sarkozy aber mehr als eine unkontrollierbare Jugendbewegung, die in Frankreich zwangsläufig Erinnerungen an die Revolte vom Mai 68 wachrufen. Der Präsident hat daher seine Regierung seit Sommer ersucht, auf Anzeichen einer Mobilisierung der Jungen „wie über die Milch auf dem Kochherd zu achten“. Mittlerweile brodelt es bereits.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2010)

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