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Die EU-Staaten sind innovationsmüde

Jan Zielonka nahm via Livestream aus seinem Feriendomizil bei Florenz entfernt am Europakongress teil.
Jan Zielonka nahm via Livestream aus seinem Feriendomizil bei Florenz entfernt am Europakongress teil.Screenshot
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Impulsreferat. Jan Zielonka, Professor für Politik und Internationale Beziehungen an der Venediger Universität Ca’ Foscari, forderte für Europa einen radikalen Wandel der Politik.

Jan Zielonka spannte in seinem via Videostream übertragenen Referat den Bogen von Giuseppe Boccaccio, der in seinem Decamerone eine Pandemie mit Liebe und Freundschaft meisterte, bis zum Heiligen Römischen Reich, das über Jahrhunderte erfolgreich Politik betrieb. Im heutigen Europa stellte er jedoch mehrere Paradoxien fest: Die Integration begann vor sieben Jahrzehnten erfolgversprechend, heute sind Politiker, die unter nationalen Flaggen ihre Thesen verkünden, jedoch so populär wie nie zuvor. Da transnationale Transaktionen wie Migration, Handel oder das Internet das tägliche Leben bestimmen, nimmt der Ruf nach einer öffentlichen Autorität zu. Die Europäische Union stellt sich in dieser Aufgabe nicht geschickt an, wenn man an die Vorgehensweise bei der Finanzkrise oder beim Bestellvorgang von Covid-19-Impfdosen denkt. Laut Zielonka bemerken im Moment viele Bürger, dass die EU einen Wandel benötige. Sie ist unwillig zu Reformen, die letzte — das Maastricht-Abkommen, das die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung beschloss — liegt immerhin bereits fast 30 Jahre zurück. Wenn das Gespräch auf EU-Vertragsveränderungen kommt, möchten Politiker aber nichts davon wissen.

Absolute Macht

Die berechtigte Frage lautet, warum dies all so sei? Für den Politikwissenschaftler gibt es einen Grund, der diese Paradoxien erklärt: Es ist das Modell der Integration, das den einzelnen Mitgliedsstaaten zu absoluter Macht verhilft. Zielonka: „Die Auswirkungen zeigen sich, wenn Regierungschefs und Minister bei EU-Ratstreffen um eine Vereinbarung ringen. Brachte der Gipfel einen Erfolg für das jeweilige Land, lassen sich die Verhandler in den Hauptstädten feiern. War es ein Misserfolg, wird Brüssel dafür verantwortlich gemacht.“ So ein System kann nicht optimal funktionieren.

Das war aber nicht immer so. In den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration hat das System funktioniert, Europa war attraktiv, es hat Wohlstand und Wachstum generiert. Laut Zielonka ist der „Sex-Appeal“ von Europa verloren gegangen. Staaten rechtfertigen ihr Entscheidungsmonopol, weil sie die einzigen demokratisch gewählten Einheiten sind. Das funktioniert aber nicht optimal, weil die Parlamente und die politischen Parteien wenig beliebt sind.

Was kann dagegen unternommen werden? Zielonka plädierte dafür, dass das Monopol der Mitgliedsstaaten auf Meinungsbildung abzuschaffen wäre. Es sollte vielmehr die Frage gestellt werden, welche Einheiten heute Wachstum und Innovation generieren? Das sind vor allem Städte, die sich nicht nur wie bisher um urbane Herausforderungen kümmern, sondern auch um Themen, die früher von Staaten erledigt wurden, wie beispielsweise Migration. Eine Vielzahl von Aufgaben wie Unterbringung, Gesundheitsvorsorge, Jobs oder Bildung für Migranten wird von Kommunen bewältigt. Oder von Regionen, wie das Beispiel Corona-Impfstrategie beweist.

Genauso verhält es sich um NGO und private Unternehmungen. „Mit wem möchten wir lieber über den Klimawandel reden: Mit NGO oder mit staatlichen Regierungen?“, fragte Zielonka nachdenklich. All diese außerstaatlichen Einheiten sind bei den entscheidenden Verhandlungen nicht vertreten und haben keinen Zugang zu EU-Finanzmitteln. Die Staaten hätten die „Show“ gewonnen, aber sie bestehen die Herausforderungen nicht. Deshalb sollte über eine Reduzierung der Rolle des Staates und mehr Macht und Geld für Regulierungsbehörden nachgedacht werden. Für den gebürtigen Polen wäre die Lösung das Schaffen einer zweiten Kammer im EU-Parlament, in der NGO, Unternehmen, Städte und Regionen vertreten wären. „Vielstimmigkeit statt Hierarchie“ und „Anreize statt Sanktionen“ sollten in Brüssel zu Schlagwörter werden.

Auf Rechtsstaatlichkeit, die einige nationale Regierungen gern ignorieren, dürfe auf keinen Fall verzichtet werden. Denn wer ist bereit, ohne Rechtsstaatlichkeit zu investieren? Ohne unabhängige Gerichte, die versuchen, Konflikte objektiv zu entscheiden. Das sei laut Zielonka etwas, dass nicht kompromittiert werden dürfe.

Mehr Information: www.diepresse.com/europakongress

Zur Person

Jan Zielonka wurde 1955 in Polen geboren. Nach einer Professur an der Universität Oxford lehrt er nun Politik und Int. Beziehungen an der Venediger Universität Ca’ Foscari.

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