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Politik der Angst in vielen Demokratien präsent

Gerald Knaus, Gründer und Vorsitzender ESI.
Gerald Knaus, Gründer und Vorsitzender ESI. francescoscarpa.com
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Expertentalk 2. Judith Kohlenberger und Gerald Knaus beschäftigten sich mit Emotionen und Fakten in der Migrationskrise sowie deren Lösungsansätzen.

Die Entwicklung in Afghanistan, deren dramatische Zuspitzung zum Zeitpunkt dieses Expertentalks Ende Juli niemand vorhersehen konnte, rückt das Thema Flucht und Migration wieder in den Vordergrund, weil mit neuen Flüchtlingsströmen zu rechnen ist. „Dabei geht es um viele Emotionen, aber es ist wichtig, das Problem anhand von Fakten zu diskutieren“, erläuterte Gerald Knaus, Mitgründer und Vorsitzender des Thinktanks European Stability Initiative (ESI), im Rahmen des Europakongresses. Wird über Migration gesprochen, werden häufig Bilder aus der Physik wie Druck oder Pull oder hydraulische Metaphern wie Ströme verwendet, wodurch der Eindruck entstehe, man habe es mit einem gewaltigen naturwissenschaftlichen Phänomen zu tun. „Eine Politik der Angst ist in vielen Demokratien präsent“, so Knaus in seinem Impulsvortrag zu Beginn der Diskussion. Dazu würden irreführende Zahlen kommen, wie etwa jene, wonach im Vorjahr 82,4 Millionen Menschen weltweit zur Flucht gezwungen gewesen wären — diese hatte Filippo Grandi, Chef des UNO Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), veröffentlicht. Fakt ist, dass die irreguläre Migration weltweit niedrig, die Zahl der Flüchtlinge seit 2017 kaum gewachsen ist. „Ende 2017 waren 20 Millionen Flüchtlinge unter dem Mandat des UNHCR, Ende 2020 waren es 20,7 Millionen“, rechnete Knaus vor, auf dessen Initiative das EU-Türkei-Abkommen aus dem Jahr 2016 basiert.

Eine andere Tatsache ist, dass irreguläre Migration weltweit von Staaten gestoppt wird. Menschen werden, beispielsweise in Ungarn, Kroatien, Griechenland, aber auch an anderen Grenzen aufgegriffen und ohne Verfahren zurückgestoßen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres hätten es demnach nur 1300 Menschen nach Griechenland geschafft, so der Migrationsexperte. Fakt drei sei, dass weltweit nur wenig Asyl bewilligt werde. „In Asien, wo in 22 Ländern vier Milliarden Menschen leben, wurde 2019 nur 24.000 Menschen Asyl gewährt. Dort gibt es praktisch kein Asylwesen“, kritisierte Knaus die gegenwärtige Situation. Denn auch diese Zahl ist irreführend, da die meisten Verfahren vom UNHCR in Malaysia durchgeführt wurden, um die Asylsuchenden dann nach Kanada, USA oder Europa umzusiedeln. Nicht zuletzt ist es Tatsache, dass weiterhin viele Menschen im Mittelmeer sterben, obwohl nur wenige die EU als finale Destination ihrer Flucht angeben. „Im Vorjahr sind knapp 1000 Menschen umgekommen“, sagte Knaus, der für heuer mit noch mehr Todesopfern im Mittelmeer rechnet.

Wer gewährt Asyl?

Angesichts dessen sei es notwendig, zu erkennen, wo sich Flüchtlinge in Not befänden. Aber auch die Frage, wer Asyl gewährt und warum, sollte beantwortet werden. „Wie rettet man den Asylgedanken in einer Welt, in der es dem UNHCR seit Jahrzehnten nicht gelungen ist, Länder etwa in Asien davon zu überzeugen“, stellte Knaus eine rhetorische Frage. Ebenfalls aufs Tapet gebracht werden sollte die Tragödie, wie das Sterben im Mittelmeer beendet und wie inhumane Kontrolle an den Grenzen durch humane ersetzt werden könnte. All das sei eine Frage der Politik in Demokratien. „Es liegt an wenigen Staaten, auch an Österreich, ob die Flüchtlingskonvention, die kürzlich ihren 70. Geburtstag feierte, überleben wird“, so der Experte.

Judith Kohlenberger, Institut für Sozialpolitik an der WU Wien.
Judith Kohlenberger, Institut für Sozialpolitik an der WU Wien.Christian Lendl

Emotionen erreichen uns

Die emotionale Ebene kann jedenfalls nicht ganz ausgeblendet werden, ist Judith Kohlenberger vom Institut für Sozialpolitik der WU Wien, überzeugt. Würde man dies tun, nehme man sich eine starke Argumentationslinie beim Thema humanere Grenzen, der Schaffung einer neuen Asylrechtsordnung und der Wiederbelebung der Genfer Flüchtlingskonvention. „Wir wissen aus der Forschung, dass uns Emotionen dort erreichen, wo es Fakten nicht hin schaffen“, erklärte Kohlenberger. Die Trennung zwischen Emotionen und Fakten müsse überwunden werden, wenn es auf die zunehmend wichtigere Diskursebene gehe. Laut Kohlenberger liegen viele Konzepte und Instrumente auf dem Tisch, von unterschiedlichen Policy-Instrumenten bis hin zu zivilgesellschaftlichen Konzepten. „Europa muss sich fragen, welche Rolle es im globalen Flüchtlingsschutz spielen will“, gab die Migrationsforscherin zu bedenken.

Irreguläre Migration

Um das Geschäft der Schlepper zu stoppen, ist es notwendig, nicht mit diesen zusammenzuarbeiten und die irreguläre Migration durch Resettlements, also die dauerhafte Neuansiedlung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge in einem zur Aufnahme bereiten Drittstaat, zu reduzieren. „Eine andere Frage ist, ob es mittel- und langfristig überhaupt möglich sein kann, einen Asylantrag auf europäischem Boden zu stellen“, meinte Kohlenberger. Der Migrationsprozess über Land und Wasser sei mit vielen Gefahren verbunden, wenn er nicht über legale Möglichkeiten stattfinde. Eine Alternative wäre beispielsweise Botschaftsasyl, das in Form von Pilotprojekten mit gewissen Staaten als Form der Auslagerung zu überlegen wäre.

Die entscheidende Frage wird sein, ob und wie Europa sich auf ein Konzept im Migrationswesen einigen kann. „Das geht letztendlich nur durch die Politik“, zeigte sich Knaus überzeugt. Ein Beginn wäre, wenn sich eine Gruppe von Staaten, wie Deutschland, aber auch Frankreich und Österreich, auf Ziele wie Realismus bei Abschiebungen, die Reduktion der regulären Migration und den Ausbau des Resettlements einigen könnte. Dann könnte man zusätzlich Städte, Gemeinden und Bürger, die sich zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären, einbeziehen. „Wir brauchen Programme, die die Kontrolle durch den Staat und die Empathie durch die Zivilgesellschaft verbinden und dadurch die Akzeptanz in der Gesellschaft gewinnen“, forderte Knaus. Wichtig wäre es darüber hinaus, Migration als ganzheitliches Konzept zu betrachten und dafür zu sorgen, dass Ursachen für die Flucht so weit als möglich vermieden werden, ergänzte Kohlenberger. Nicht zuletzt sollte weltweit mehr Asyl gewährt werden. „Wir müssen Länder wie Tunesien oder Mexiko überzeugen, Asylsysteme aufzubauen“, argumentierte Knaus. Das wäre im Übrigen, so Kohlenberger, ein konkreter Handlungsspielraum für Österreich. „Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie Österreichs Regierung sich bei der Abschiebung auf die Unterstützung Bosniens und anderer Länder verlassen hat. Warum bietet man keine Unterstützung beim Aufbau rechtsstaatlicher Asylverfahren?“, wollte die Wissenschafterin wissen.

Mehr Informationen: www.diepresse.com/europakongress

EU-Türkei-Abkommen

Lexikon

Um die illegale Migration über die Türkei in EU-Staaten, vor allem nach Griechenland, zu minimieren und weitere Todesfälle in der Ägäis zu verhindern, haben sich die EU und die Türkei im März 2016 auf ein abgestimmtes Vorgehen geeinigt.

Die Türkei erklärte sich darin zur Rücknahme der irregulär auf den griechischen Inseln ankommenden Migranten bereit. Für jede von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschobene Person aus Syrien soll eine andere syrische Person aus der Türkei in der EU neu angesiedelt werden (1:1-Mechanismus).

Darüber hinaus hat die EU für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei finanzielle Unterstützung von zunächst drei Milliarden Euro zugesichert, die 2018 mit einer weiteren Tranche von drei Milliarden Euro fortgeführt wurde.

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