Morgenglosse

Das Opium im Kinderzimmer

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Jugendliche in die Spielsucht abgleiten zu lassen, ist eine falsch verstandene Auslegung von Freiheit.

Jugendliche in China dürfen ab sofort nur noch zwischen Freitag und Sonntag jeweils eine Stunde an Online-Spielen teilnehmen. Der Staat will so exzessives Spielen einschränken, um die geistige und körperliche Gesundheit von Heranwachsenden zu schützen. Etliche Online-Games kämen laut Behörden „geistigem Opium“ gleich.

Wer Jugendliche kennt, weiß um die Wirkung von ausuferndem Spielen und dem teils verstörenden Nachhall, den erzwungene Unterbrechungen des Zockens auslösen: Aggression, Frustration, geistige Leere, Hyperaktivität. Psychologen und Kinderärzte bestätigen diese Erfahrungen: Das Suchtpotenzial ist bekannt. Die beliebtesten Spiele, allesamt gratis herunterzuladen, funktionieren durch das Aktivieren des Belohnungszentrums im Gehirn und der damit einhergehenden Frustration. Weiterkommen kann nur, wer zahlt, wer etwa Outfits kauft oder neue Waffen erwirbt. Die Spielehersteller zocken ihre Nutzer gewissenlos ab.

Tools, mit denen der Konsum eingeschränkt werden kann, können leicht umgangen werden. Verbote von Erziehungsberechtigten führen zumeist zu noch mehr Aggression: Weil „die anderen“ auch spielen und vor allem in der für Jugendliche so belastenden Corona-Zeit kaum eine andere Möglichkeit bestand, mit Freunden zu kommunizieren. Jugendliche telefonieren nicht mit ihren Freunden, um sich auszutauschen, sie zocken gemeinsam, jeder in seinem Zimmer, und reden nebenher. So sieht Kommunikation im Jahr 2021 aus und wem sie nicht gefällt, der ist dennoch machtlos, diese im Alleingang zu ändern.

Ein Kraftakt

Chinas staatlicher Eingriff ist drastisch und in der westlichen Welt undenkbar. Jugendlichen hierzulande kann zwar Alkohol und Rauchen verboten, ihre Freiheiten eingeschränkt werden, sie müssen Masken tragen und mehr Corona-Test absolvieren als Erwachsene im Vergleich. Was ihre Psyche belastet, in die Sucht treibt, bleibt unangetastet legal. Nicht alle Jugendliche kippen. Es gibt auch Eltern, die einen vernünftigen Umgang ihrer Kinder mit Online-Spielen erwirken. Es ist ein Kraftakt, den nur eine Minderheit schafft, und der in Kauf nimmt, dass manche Jugendliche in ihrem Freundeskreis dadurch ausgeschlossen werden.

Wer die psychische Belastung von Jugendlichen heutzutage nicht nur beklagen, sondern auch erleichtern will, braucht die Hilfe der Industrie: Es muss Klarnamen geben und eine Ausweispflicht; es muss die Möglichkeit überlegt werden, Spielzeit drastisch zu beschränken – von Seiten des Herstellers. Unternehmen müssen verpflichtet werden, einen Teil ihres Gewinns für psychosoziale Institutionen zu spenden, die süchtigen Jugendlichen helfen können.

Nein, der Staat soll dies nicht regeln: Aber es sollte das Problem zumindest ansprechen und Maßnahmen zur Debatte stellen. Das hilflose Schweigen ist ein Vergehen gegenüber einer Generation, die der Spieleindustrie einfach zum Fraß vorgeworfen wird.>>> „Spiel weniger am Handy“ wird nicht reichen [premium]

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