Gastkommentar

Corona spaltet Europa – und der tiefste Graben liegt zwischen den Generationen

Junge Menschen am Donaukanal
Junge Menschen am DonaukanalDie Presse/Clemens Fabry
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Die jüngere Generation in Europa glaubt immer weniger den zentralen Beweggründen ihrer Regierung. Der Zynismus nimmt zu. Das könnte Langzeitfolgen für die Zukunft der Demokratie haben.

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Krisen sind wie Hobbymaler: Sie ziehen gerne Grenzen, die sie wieder und wieder neu festlegen. Jede größere Krise des letzten Jahrzehnts hat Europa geteilt, zwischen Staaten und innerhalb von Staaten, entlang verschiedener Trennlinien. Die Euro-Krise entzweite die Europäer zwischen Nord und Süd und unterteilte den Kontinent in Schuldner und Gläubiger. Die Flüchtlingskrise zog eine andere Trennlinie, diesmal zwischen dem Osten und dem Westen. Waren diese Spaltungen weithin sichtbar und führten zu eindeutigen Lagern, was sich auch in anderen Politikbereichen niederschlug, so schien die Pandemie in ihrer Anfangsphase die Europäer zusammenzuführen. Zu Beginn herrschte für einen Moment eine nationalistische Stimmung, als die EU-Regierungen über Nacht ihre Grenzen schlossen – doch entwickelte sich daraus schnell ein europäischer Geist, als sich die EU-Mitgliedstaaten darauf einigten, gemeinsam Impfstoffe zu kaufen.

Mit der Zeit wurde jedoch immer deutlicher, dass sich die gelebte Pandemieerfahrung in vielen Teilen der EU auf sehr unterschiedliche Weise niederschlägt und dass einige der alten Spaltungen in der Gemeinschaft – über die Landesgrenzen und Generationen hinweg – wieder deutlich zutage getreten sind.

Die jüngste Umfrage des European Council on Foreign Relations zu den Ansichten der Bevölkerung in der Zeit von Corona offenbart, was die persönlichen Erfahrungen der Menschen mit der Krise angeht, eine deutliche Kluft zwischen Ost- und Südeuropa auf der einen Seite und Nord- und Westeuropa auf der anderen. In Schweden, Dänemark, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Deutschland hat die Befragung beispielsweise ergeben, dass die Befragten mehrheitlich nicht persönlich von der Krankheit betroffen sind. Hingegen zeigt sich in Bulgarien, Ungarn, Polen, Spanien und Portugal das genau entgegengesetzte Bild.

Vertrauensvolle, Misstrauische und Ankläger

Zweitens offenbart die Umfrage unübersehbar eine Realität, in der die Europäer sehr unterschiedliche Überzeugungen davon haben, was die Beweggründe der Regierungen für die staatlichen Corona-Einschränkungen sind. Deutlich gibt es drei ausgeprägte und widerstreitende Gruppierungen im heutigen Europa: erstens die „Vertrauensvollen“, die ihren Regierungen vertrauen und überzeugt sind, dass der Grund für die Beschränkungen allein  die Notwendigkeit war, die Ausbreitung des Virus zu stoppen; zweitens die „Misstrauischen“, die glauben, die Regierungen nutzten die Beschränkungen, um Versäumnisse zu vertuschen; und drittens die „Ankläger“, die überzeugt sind, dass die Regierungen die Pandemie instrumentalisieren, um ihre Kontrolle über die Bevölkerung auszuweiten.

Die Größe dieser Bevölkerungsgruppen variiert in den europäischen Gesellschaften immens. In polarisierten Gesellschaften wie Polen und Frankreich hat die Krise eher die bestehenden ideologischen Spaltungen verstärkt, als dass sie zu sozialer Solidarität und Gemeinsinn geführt hätte. In Polen fand der ECFR den größten Anteil von Menschen, die der Meinung sind, dass die Regierung pandemiebedingte Beschränkungen nutzt, um den Anschein von Kontrolle über die Pandemie zu erwecken oder als Vorwand, um tatsächlich Kontrolle über das Volk auszuüben. In Frankreich wiederum hatte die Pandemie bei den politischen Parteien einen „Cross-Dressing-Effekt“ zur Folge: Die Krise verleitete die liberalen Anhänger von Emmanuel Macrons zentristischem Programm dazu, stark intervenierende staatliche Maßnahmen zu unterstützen, während die Anhänger von Marine Le Pen, deren Partei sich häufig für einen autoritäreren Staat eingesetzt hat, die Beschränkungen für zu streng hielten.

Der tiefste Graben

Doch von allen Gräben, die die ECFR-Umfrage offengelegt hat, ist der tiefste – sowohl innerhalb der einzelnen europäischen Gesellschaften als auch europaweit – der zwischen den Generationen. Die Umfrage ergab, dass sich fast zwei Drittel der über 60-Jährigen nicht persönlich von der Corona-Krise betroffen fühlen, wohingegen eine Mehrheit der Befragten unter 30 davon betroffen ist.

Für junge Menschen stellt die Pandemie eine existenzielle Bedrohung ihrer Lebensweise dar, und es herrscht weithin das Gefühl, dass ihre Zukunft zum Wohle ihrer Eltern und Großeltern geopfert wurde. Dieses Grundgefühl gleicht dem früherer Nachwuchs-Generationen, die andere einschneidende Umbrüche wie Weltkriege und Revolutionen durchlebt haben. So ist es kaum vorstellbar, dass diese Kluft keine Konsequenzen nach sich ziehen wird.

Eine der deutlichsten der bislang sichtbaren Folgen ist eine Zunahme von Zynismus: Die jüngere Generation in Europa glauben immer weniger den zentralen Beweggründen ihrer Regierung für die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.

Dass das Vertrauen junger Europäer in ihre jeweiligen Staatswesen durch die Krise weiter geschwächt wurde, könnte Langzeitfolgen für die Zukunft der Demokratie haben. Untersuchungen des Centre for the Future of Democracy an der Universität Cambridge haben gezeigt, dass die heute jungen Menschen – auch bereits vor der Krise – die Generation mit der größten Unzufriedenheit über die Arbeit der demokratischen Regierungen bilden. Sie sind skeptischer, was die Vorzüge der Demokratie angeht, nicht nur im Vergleich zur älteren Generation von heute, sondern auch im Vergleich zu jungen Menschen, die in früheren Zeiten befragt wurden.

Wir sind in Europa nur noch einen Schritt von dem Punkt entfernt, an dem junge Menschen zu dem Schluss kommen, dass die Demokratie nicht ihr Ding ist.

Die Autoren

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.

Mark Leonard ist Gründungsdirektor des European Council on Foreign Relations.

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