Gastkommentar

Über die Gnade der frühen Geburt in Pandemiezeiten

Peter Kufner
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In Österreich wurde immer wieder Solidarität von den Jungen gefordert. Aber wo zeigt die Gesellschaft Solidarität mit ihnen?

„Kann denn nicht wenigstens einer an die Kinder denken?“ Helen Lovejoy aus der bekannten US-Zeichentrickserie „Die Simpsons“ hat es während der letzten eineinhalb Jahre zu ungeahnter Popularität gebracht. Kinder und Jugendliche haben es in der Pandemie schwer. Nicht nur, dass die Kontaktbeschränkungen durch Lockdowns für alle herausfordernd waren, wurde dieser Personengruppe zusätzlich viel abverlangt. So hat etwa der ehemalige österreichische Gesundheitsminister die Jugendlichen vor einem Jahr aufgefordert, sich endlich „zusammenzureißen“ und „Verantwortung zu übernehmen“.

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Kinder und Jugendliche galten bis zur Impfung der Risikogruppen und der Älteren als deren größte Gefährder, die folglich solidarisch zu sein hatten. Mit der Impfung hat sich vieles geändert: Die unter Zwölfjährigen sind der Deltavariante ausgeliefert, während sich alle anderen (bis auf Ausnahmefälle) durch Impfungen vor schweren Krankheitsverläufen schützen können. Und damit indirekt auch die Kinder.

Aber keine Sorge: Wir in Österreich sind mit den schwächsten Gliedern der Gesellschaft solidarisch. So solidarisch, dass wir nicht einmal mehr für Impfungen aus dem Haus gehen. Wir könnten auf dem Weg ja jemanden anstecken. Wir sind auch so solidarisch, dass erste Bundesländer die Bettenkapazität auf den Kinderintensivstationen aufstocken. Denn wir wollen nur die beste medizinische Betreuung unserer Jüngsten.

Die aktuelle Pandemiepolitik zeigt, dass die jüngeren Generationen im gesellschaftlichen Diskurs weniger Beachtung finden als jene mit der „Gnade der frühen Geburt“. Charles Ritterband hat in seinem Abschiedsartikel aus Wien mit „Österreich: Wo man sich's richtet“ getitelt. Warum es sich ältere Geburtskohorten besser richten können als die Jungen, darauf liefert die politische Ökonomie eine Antwort. Rational agierende Politikerinnen und Politiker handeln so, dass sie damit die eigenen Wählerstimmen beim nächsten Urnengang maximieren können. Durch den demografischen Wandel wächst die ältere Bevölkerungsgruppe stetig und übersteigt zahlenmäßig die Gruppe der Kinder und Jugendlichen bei Weitem. Wer Wahlen gewinnen will, muss im Zweifel Politik für die Älteren machen. „Allgemein gesagt ist jede parlamentarische Demokratie auf einem Strukturproblem aufgebaut, nämlich der Verherrlichung der Gegenwart und der Vernachlässigung der Zukunft“, wusste bereits Richard von Weizsäcker. Ökonomisch führt dieser „Status-quo-Bias“ oft zu suboptimalen Entscheidungen. Dies lässt sich anhand einiger bekannter Beispiele illustrieren.

Bildung rentiert sich

Erstens: Bildung. In der Coronakrise hatten die Schulschließungen weitreichende Folgen. Eltern, die Arbeit und Kinderbetreuung vereinbaren mussten, waren weniger produktiv im Job und es gingen unzählige Arbeitsstunden verloren. Dies wurde auch thematisiert. Die langfristigen Folgen der Schulschließungen wurden weniger diskutiert. Sowohl der private als auch gesamtwirtschaftliche Nutzen von Bildung ist hoch. Im Schnitt aller entwickelten Länder liegen die privaten Bildungsrenditen pro Jahr bei bis zu 25 Prozent. Vier Jahre mehr an Bildung können das doppelte Einkommen bedeuten. Mangelnde Konzepte für sichere Schulen „rauben“ unseren Kindern und Jugendlichen zukünftiges Einkommen. Kinder aus einkommensschwächeren und bildungsfernen Familien werden, so die Literatur, stärker darunter leiden. Die Folge: Die Einkommens- und Bildungsschere geht weiter auf.

Zweitens: Pensionen. Die Ausgaben betrugen hier vor der Krise etwa 13,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes; die Zahl wird bis 2060 um etwa zwei Prozentpunkte ansteigen. Der jährlich nötige Zuschuss zum Pensionssystem soll nach Berechnungen der Alterssicherungskommission bereits 2025 mehr als 15 Milliarden Euro betragen. Dazu kommen etwa 14 Milliarden Euro für die Beamtenpensionen, die aus dem Budget finanziert werden.

Wer die gut 40 Milliarden für den Covid-19-Rettungsschirm für überzogen hält, dürfte wohl auch nicht glücklich darüber sein, dass eine ähnlich hohe Summe jedes Jahr nötig ist, um den fehlenden Beitrag aus dem Umlagesystem für die aktuellen Pensionen zu finanzieren. Im Vergleich hierzu geben wir für alle Universitäten im Rahmen der nächsten Leistungsvereinbarungsperiode pro Jahr 4,1 Milliarden aus. Die Lösung für die Pensionsproblematik ist seit Jahrzehnten bekannt und findet sich in vielen Gutachten. Umgesetzt wird sie jedoch nicht.

Drittens: Umweltpolitik. Die heute betriebene Form der Energiegewinnung mit dem Schwerpunkt auf fossile Energieträger ermöglicht einen einmalig hohen Lebensstandard, nimmt aber dafür gravierende Folgen in der nahen Zukunft in Kauf. Die „kostenlose“ Emission von CO2 hat nicht unbedeutend zum heutigen Wohlstandsniveau beigetragen. Zunehmend werden jetzt die damit einhergehenden Kosten durch den Klimawandel etwa in Form von Wetterextremen sichtbar. Die jüngeren und zukünftigen Generationen werden darunter massiv leiden. Die Älteren würden dagegen durch eine ernsthafte marktbasierte Klimapolitik Einkommensverluste hinnehmen müssen. Auch deshalb agiert die Politik zögerlich.

Viertens: Schulden. Wir leben über unsere Verhältnisse. Jedes Jahr mit einem Budgetdefizit (es war in der Geschichte der Zweiten Republik so gut wie immer der Fall) heißt finanzielle Belastung für die künftigen Generationen. Würden die Ausgaben bloß für produktive Investitionen gemacht, wäre es nicht verkehrt. Aber in Wahrheit finanzieren wir mit den Schulden den überzogenen Staatskonsum.

Ober sticht Unter

Der ökonomischen Literatur wären mindestens zwei Ideen zu entnehmen, wie man die Zukunft bei Entscheidungen besser berücksichtigen kann. Zum einen das Familienwahlrecht: Demnach sollen bei Parlamentswahlen auch minderjährige Staatsbürger wahlberechtigt sein, wobei das Recht bis zur Volljährigkeit stellvertretend durch die Eltern ausgeübt wird. Somit verschiebt sich die politische Mehrheit zugunsten der Jüngeren. Zudem könnte man die „Generationengerechtigkeit“ in den Verfassungsrang heben. Ähnlich dem Staatsziel Nachhaltigkeit, müssten alle Gesetze in Hinblick auf die zukünftige Generation überprüft werden.

Für beide Alternativen benötigt es jedoch eine politische Mehrheit, und hier gilt wiederum „Ober sticht Unter“: Ohne Zustimmung der Älteren wird sich nichts ändern lassen.

DIE AUTOREN

Monika Köppl-Turyna (*1985) ist Ökonomin und Direktorin des Forschungsinstituts EcoAustria.

Harald Oberhofer (*1983) ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien.

„Corona spaltet Europa – und der tiefste Graben liegt zwischen den Generationen“: Was das für die Demokratie bedeuten könnte, darüber schreiben Ivan Krastev und Mark Leonard in einem Gastkommentar, der online erschienen ist: www.diepresse.com/meinung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2021)

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