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Bulliger Amerikaner, feingeistige Französin – und ein Mordfall

Stillwater
StillwaterJessica Forde / Focus Features
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„Spotlight“-Regisseur Tom McCarthy erzählt in seinem neuen Thriller „Stillwater“ – inspiriert vom Amanda-Knox-Fall – von einem grobschlächtigen US-Arbeiter, der sich im mondänen Marseille machtlos fühlt. Matt Damon ist brillant darin. Ab Donnerstag im Kino.

Ein seltener Anblick wird in „Stillwater“ geboten: Ein bulliger US-Amerikaner aus der ländlichen Unterschicht, wie man ihn außerhalb seiner titelgebenden Heimat (ein Industriekaff im Mittleren Westen) nicht vermuten würde, stiefelt durch Marseille. Anfangs bewegt sich der Schirmmützenträger wie ein verirrter Tourist durch die verwinkelten Gassen. Später hat er sich zum vorbildlichen Einwanderer gemausert, der sich einen Job auf der Baustelle besorgt und liebevoll um die kleine Tochter seiner Mitbewohnerin kümmert, einer französischen Off-Theater-Schauspielerin, die dem ungehobelten Riesen schnell erlegen ist.

Bill (beeindruckend physisch: Matt Damon) und Virginie (feingeistig: Camille Cottin) könnten auch das Traumpaar aus einer romantischen EU/USA-Komödie über gelingende Völkerverständigung und überwundene Klassendifferenzen abgeben. Sie haben sich aber durch ein Verbrechen kennengelernt, das den Umzug des ehemaligen Ölbohrers ins mondäne Frankreich erklärt. Der Ex-Alkoholiker, der hier ohne jede Sprachkenntnis seine Tochter aus dem Gefängnis befreien will, in dem sie wegen Mordes sitzt, offenbart zudem einen Charakterfehler nach dem anderen. Er lügt, wenn er sich machtlos fühlt. Und er schlägt bei Verdacht lieber zu, statt die Polizei zu rufen.

Regisseur und Co-Drehbuchautor Tom McCarthy, dessen Aufarbeitung eines Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche, „Spotlight“, 2016 den Oscar als Bester Film erhielt, ergründet in seinem Thriller vor allem die widersprüchliche Psyche seines Helden. Inspiriert wurde er vom Fall der amerikanischen Austauschstudentin Amanda Knox, die Mitte der 2000er in Italien wegen angeblichen Mordes an ihrer britischen Mitbewohnerin zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt und später freigesprochen wurde. Hier soll eine junge Amerikanerin (Abigail Breslin aus „Little Miss Sunshine“) während eines Studienaufenthalts in Marseille ihre muslimische WG-Genossin, die auch ihre Geliebte war, umgebracht haben.

Ein überforderter Schüchterling

Für die männliche Hauptrolle hat sich Damon dicke Oberarme antrainiert. Dem Klischee des unverwüstlichen Working-Class-Berserkers wirkt er jedoch brillant entgegen, indem er ihn als überforderten Schüchterling mit durchlässigem Körperpanzer porträtiert. Ihm gelingt es, die negativen Seiten seiner Figur als verhärtete Symptome einer tief sitzenden Scham und Unsicherheit der gegenwärtigen Arbeiterschicht in den USA zu vermitteln. Gerade in der Fremde tritt die Isolation des patriarchalen Musteramerikaners alter Schule, der vor jeder Mahlzeit betet und stolzer Waffenbesitzer ist, noch deutlicher zutage.

Bill ist in Frankreich ein Außenseiter. Man verdächtigt ihn, Trump gewählt zu haben, und verspottet ihn als Cowboy. Seine Statur täuscht nur schlecht über seine Machtlosigkeit hinweg. Erst die weltoffene Bühnenschauspielerin bringt ihn durch ihr hilfsbereites Dolmetschen seinem Ziel näher und lässt ihn sensibler für das Fremde werden. Wie sich der Thriller darüber zum sozialrealistischen Drama mit utopischen Zwischentönen verwandelt, lässt an die Milieustudien der Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne denken, an die „Stillwater“ dank der körpernahen Kameraführung, der intimen Figurenzeichnung und der rauen Originalschauplätze auch ästhetisch erinnert.

Der Blick auf prekäre Existenzen erfolgt dabei aus einer Perspektive der emotionalen Solidarität, die sie trotzdem nicht zu reinen Opfern oder stereotypen Repräsentanten ihrer Milieus reduziert. Das macht den Film so spannend, rührend und ausgewogen. Er urteilt nicht. Er analysiert und reflektiert. Und träumt dazwischen von interkultureller Liebe als letzter verbindender Kraft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2021)

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