Leitartikel

Das unrühmliche Ende der 9/11-Ära

Blick auf die rauchenden Zwillingstürme des World Trade Center in New York am 11. September 2001. Der Tag hat die USA und die Welt verändert.
Blick auf die rauchenden Zwillingstürme des World Trade Center in New York am 11. September 2001. Der Tag hat die USA und die Welt verändert. Corbis via Getty Images
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Sinnbild einer vergeudeten Epoche: 20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September regieren in Kabul wieder die Taliban. Im Krieg gegen den Terror haben die USA ihre Vormachtstellung verspielt.

Der Kreis schließt sich. Am 11. September 2001 traf Osama bin Ladens Terrornetzwerk al-Qaida die USA mit synchronisierten Anschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington mitten ins Herz. Eine vierte gekaperte Boeing-Maschine wäre womöglich ins Kapitol oder ins Weiße Haus gekracht. Doch mutige Passagiere, die von den vorangegangenen Attentaten erfahren hatten, stürmten das Cockpit und brachten das Flugzeug über Shanksville zum Absturz. Die Wucht der mörderischen Angriffe lässt sich mit dem Abstand der Zeit kaum mehr fassen. Allein unter den Trümmern der eingestürzten Bürohochhäuser in Manhattan starben 2753 Menschen. Die Supermacht war schwer verwundet – und sann noch am selben Abend auf Vergeltung.

Die Welt hielt den Atem an. Es war ein rarer Augenblick internationaler Solidarität, der sich nicht einmal Russland entzog. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte aktivierte die Nato den Artikel 5, den Bündnisfall. Der militärische Zorn der Amerikaner traf Afghanistan. Denn das dortige Taliban-Regime hatte der al-Qaida Unterschlupf geboten, die nun, da waren sich alle einig, ausgeschaltet werden sollte. Im November 2001 bereits brach die Herrschaft der radikalen Islamisten in Kabul unter dem Bombardement der Nato zusammen. Osama bin Laden entwischte zunächst; ein erster herber Rückschlag.

20 Jahre später sind die Taliban nach dem überhasteten Abzug der letzten verbliebenen US-Soldaten wieder an der Macht. Sie wollen angeblich heute, am symbolträchtigen 11. September, ihre neue Regierung des „Islamischen Emirats Afghanistans“ angeloben. Ein gesuchter Terrorist wird dabei den Eid als Innenminister ablegen.
Gut möglich, dass man die zwei Dekaden seit 2001 dereinst in Geschichtsbüchern als Epoche begreift. Die 9/11-Ära des „Kriegs gegen den Terror“ geht unrühmlich zu Ende. Die USA haben seit 2001 große Anschläge auf ihrem Territorium verhindert – 2011 schließlich auch bin Laden in Pakistan aufgespürt und getötet. Doch ihre Militärinterventionen hinterlassen einen Scherbenhaufen, sowohl in Afghanistan als auch im Irak. Und in den Hohlräumen des Chaos entstanden neue Terrorgruppen wie der IS.

In den vergangenen 20 Jahren verloren die Amerikaner zwischen Abu Ghraib, Guantánamo und Kabul viel von ihrer moralischen Glaubwürdigkeit. Zurück bleiben auch gröbere Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Strategiefähigkeit. Nach dem 11. September hatte der damalige US-Präsident, George W. Bush, ein Gespür für die historische Stunde, doch er nützte sie nicht richtig. Spätestens mit dem Irak-Abenteuer 2003 nahm Bush in der anmaßenden Selbstüberschätzung, den Nahen Osten demokratisch umgestalten zu können, die falsche Abzweigung. Damit richtete er mehr Schaden an als alle seine Vorgänger und Nachfolger. Die USA verspielten ihren „unipolaren Moment“, ihre einzigartige Vormachtsstellung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus.

20 Jahre nach 9/11 sieht die Welt anders aus: multipolarer und autoritärer. Während sich die Amerikaner in unnötigen, kostspieligen Kriegen ohne Maß und Ziel verzettelten, beschleunigte China seine Aufholjagd. US-Präsident Joe Biden zog auch deshalb den – letztlich misslungenen Schlussstrich – in Afghanistan, um sich voll auf die kommunistische Herausforderung in Fernost zu konzentrieren. Er vollendet die Hinwendung zu Asien, die schon sein Ex-Chef Barack Obama 2009 einleiten wollte. Afghanistan und die Taliban sind nun nicht mehr das Problem der USA, sondern eher Chinas, das bei aller Vorfreude auf Lithium-Vorräte im Nachbarland nun auch fürchten muss, dass uigurische Extremisten im Nachbarland Inspiration und Training erhalten.
Die Nachrufe auf die USA sind schon öfter verfrüht angestimmt worden. Die Weltmacht, die in absoluten Zahlen immer noch fast ein Viertel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts auf die Waage bringt und militärisch nach wie vor unangefochten die Nummer eins ist, erholte sich auch nach dem Vietnam-Debakel 1975 relativ rasch. Doch die vergangenen zwei Dekaden haben die USA zweifellos Substanz gekostet. Schwächend hinzu kommt, dass das Land vermutlich seit dem Bürgerkrieg (1861–1865) nicht mehr so gepalten war wie heute.

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