Frankreich: Mit Gewalt gegen die Pensionsreform

(c) AP (Jacques Brinon)
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Bei Demos gegen die Anhebung des Pensionsalters brannten nicht nur Autos, sondern auch eine Schule. Die Polizei setzte Tränengas gegen vermummte Jugendliche ein.

Paris. Eingeschlagene Schaufenster, geplünderte Geschäfte, brennende Autos – im westfranzösischen Le Mans sogar eine brennende Schule: Die Proteste auf Frankreichs Straßen gegen die Pensionsreform der Regierung drohten am Dienstag völlig aus dem Ruder zu laufen. In Nanterre, einem Vorort von Paris, setzte die Polizei Tränengas gegen vermummte Jugendliche ein. Mehrere Plünderer wurden verhaftet.

Gegen Mittag waren laut Innenministerium landesweit rund 480.000 Menschen, laut den Gewerkschaften aber 3,5 Millionen auf den Straßen, um ihrem Unmut über die Anhebung des Pensionsalters von 60 auf 62 Gehör zu verschaffen. Zusehends bekommen die Franzosen die Folgen der Protestaktionen zu spüren. So wird etwa eine Autofahrt quer durch Frankreich zum Orientierungslauf: Immer mehr Tankstellen mussten wegen der Streiks in den Raffinerien und der Blockaden vor Treibstoffdepots geschlossen werden. Zwar behauptet die Regierung weiterhin, es herrsche kein wirklicher Mangel.

Für Autofahrer wird es kritisch

Etwas anderes erleben die Autofahrer. Gérard (46) hat Glück gehabt: Er hat auf der Rückfahrt von Troyes im Burgund nach Paris gerade noch eine Tankstelle gefunden. Er war einer der Letzten, die noch Diesel erhielten. Rasch spricht es sich herum, wo noch Sprit erhältlich ist. Kein Glück hat der Arzt Jean-Marc an der Tankstelle im Bahnhofgebäude Montparnasse. Er wollte noch auftanken, um notfalls Hausbesuche machen zu können, aber der Diesel war längst aus. Wie so viele hat er es schon an mehreren anderen Tankstellen erfolglos versucht.

Für diejenigen, die beruflich jeden Tag unterwegs sind, Taxifahrer, Vertreter und auch Pendler aus Vororten ohne Anschluss an öffentliche Transportmittel, wird die Lage langsam kritisch. Der Motorradkurier Micha (23), fürchtet sogar, seinen Job zu verlieren.

Wie immer nehmen die Franzosen aber die Behinderung im Bahnverkehr geradezu mit Engelsgeduld hin oder erklären, sie nähmen aus Solidarität diese Störungen in Kauf. Nicht so der 49-jährige Personalchef Aymar, der aus einem südlichen Vorort kommt. Die Verkehrsstörungen seien für ihn nur Mehrarbeit und Ärger. Dass man gegen die Pensionsreform sein könne, verstehe er, doch dann müsse man auch die Regeln der Demokratie respektieren.

Müllberge in Marseille

Die Studentin Claire beteiligt sich selbst zwar nicht, findet die Demonstrationen aber nützlich: „Unsere Generation hat Angst, keinen Job zu finden oder gar auf der Straße zu landen. Ich weiß nicht, wie diese Reform funktionieren soll. Überall werden Leute entlassen, und jetzt sagt man ihnen, sie sollen länger arbeiten, das geht doch nicht auf!“ Der Filmregisseur Yvon Marciano (57), erzählt, er sei schon zweimal zu Kundgebungen gegangen: „Damit eine solche Reform akzeptiert wird, müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss sie gerecht sein und zweitens muss die Regierung in der Lage sein, die Notwendigkeit pädagogisch zu erklären. Beide Bedingungen sind nicht gegeben, und die Regierung versucht stattdessen, ihre Vorlage mit Gewalt durchzusetzen. Außerdem ist sie taub.“

Beeinträchtigt blieb auch der Flugverkehr: In Paris-Orly fiel die Hälfte der Flüge aus, an anderen Flughäfen zumindest ein Drittel. Neben Benzin und Kerosin könnte bald auch das Geld knapp werden: Die Fahrer von Geldtransporten haben sich nämlich ebenfalls an den Streiks beteiligt.

Besonders unangenehm wird der Alltag mittlerweile in Marseille, wo das Personal der städtischen Müllabfuhr streikt. Seit Tagen türmen sich die stinkenden Abfälle in den Straßen oft mannshoch. Schlimmer als in Neapel sei es, mit diesen Müllbergen in Marseille zu leben, sagen die Bewohner.

Die Abstimmung des Senats über die umstrittene Vorlage wurde auf Donnerstag verschoben. Trotz der anhaltenden Proteste, der drohenden Lähmung ganzer Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche und dem zunehmend gereizten Klima werde er an der „unvermeidlichen Reform“ festhalten, sagte Präsident Nicolas Sarkozy bei einem Treffen mit Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Auf einen Blick

Die Proteste richten sich im Kern gegen die Anhebung des Mindestpensionsalters von 60 auf 62. Das bedeutet, dass Franzosen die volle Pension erst mit 67 statt wie bisher mit 65 erhalten. 1995 und 2006 haben die Gewerkschaften durch Streiks eine Reform verhindert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2010)

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