Europapolitik

Ruhige Hand, fehlende Vision: Angela Merkels europäischer Nachlass

Kanzlerin Angela Merkel
Kanzlerin Angela Merkel(c) imago images/ZUMA Wire (Attila Husejnow via www.imago-images.de)
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Die Kanzlerin hat die Explosion der EU abgewendet, ihre Krisenanfälligkeit aber nicht behoben.

Vier Präsidenten der Europäischen Kommission, drei Präsidenten des Europäischen Rats, eine Eurokrise, den erstmaligen Verlust eines Mitgliedstaats, eine historische Migrationswelle: Angela Merkel hat in ihren 16 Jahren als deutsche Bundeskanzlerin mehr er- und überlebt als die meisten ihrer Amtsvorgänger. Keine andere Politikerin, kein anderer Regierungs- oder Staatschef hat Europa so stark geprägt wie sie.

Verändert allerdings hat Merkel die Union nicht: Den großen Knall auf dem Höhepunkt der Eurokrise, als ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble den Hinauswurf Griechenlands ernsthaft vorbereitete, konnte sie abwenden. Doch die EU ist nicht zuletzt deshalb weiterhin ein höchst fragiles Gebäude, weil Deutschland fundamentale Reparaturen vom Fundament bis zum Dach scheut: ob es um die wirtschaftspolitische Steuerung geht, in der man sich dysfunktionale und bis mindestens Ende 2022 wegen der Coronakrise ohnehin außer Kraft gesetzte Defizitregeln gesetzt hat, um die Aushöhlung von Rechtsstaat und Bürgerfreiheiten in Ländern wie Polen und Ungarn oder die geopolitische Hilflosigkeit Europas im Angesicht eines Zeitalters von Männern fürs Grobe vom Zuschnitt Wladimir Putins, Xi Jinpings oder Recep Tayyip Erdoğans.

Merkels moderner Merkantilismus

Merkels fast sprichwörtliche Abneigung gegen kühne Visionen und große Sprünge, das Zerkochen großer Probleme zu dünner Sauce, der „Merkelismus“, passte in die politische Zeit, in welcher sie das Kanzleramt übernahm. Kein halbes Jahr war es her, dass Franzosen und Niederländer den Vertrag für eine Verfassung für Europa abgelehnt hatten. Somit war klar: Auf absehbare Zeit hatten die Europäer, Bürger wie Politiker, mehrheitlich keine Lust auf Zeitenwenden.

Also hieß es fortan, das europapolitische Feld zu bestellen, ohne es umzupflügen. Und vor allem erkannte die Kanzlerin schnell, dass die EU auch eine nützliche Echokammer zur Verstärkung deutscher Interessen ist. Und das sind vor allem wirtschaftspolitische Interessen. „Sie hat modernen Merkantilismus gemacht“, sagt Cathryn Clüver Ashbrook, Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Sie hat sich gerade in der China-Politik vornehmlich mit den Belangen der deutschen Wirtschaft beschäftigt und immer große Delegationen mitgenommen. Das ist eine Wendung. 2007 hat sie noch den Dalai-Lama eingeladen und stärker auf Menschenrechte gepocht.“

Ähnlich ambivalent war Merkels Russland-Politik: Ihre Abneigung gegenüber Präsident Putin, persönlich wie weltanschaulich, hinderte sie nicht daran, die Erdgaspipeline Nord Stream 2, sein Projekt zur Festigung der energiepolitischen Abhängigkeit Europas von russischem Gas zuzulassen. Nimmt man dazu ihren überhasteten Ausstieg aus der Atomkraft, der logischerweise zu einem wachsenden Bedarf an Erdgas führen musste, ergibt das unterm Strich eine erstaunliche strategische Fehlentscheidung dieser sonst so kühl rechnenden Naturwissenschaftlerin.

Wir schaffen das – oder schafft es uns?

Wer auch immer Merkel nun folgt, wird die Zerbrechlichkeit des europäischen Einigungswerks nicht mehr überspielen können. „Sie hat sich als sehr gekonnte Krisenmanagerin bewiesen. Was dabei auf der Strecke geblieben ist, sind tiefgreifende Reformen, was den Euro angeht“, gibt Clüver Ashbrook zu bedenken. Das betrifft angesichts der düsteren Weltlage auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit. Konkret: Kann es sich der nächste Kanzler, die nächste Kanzlerin erlauben, stumm zu bleiben, wenn das totalitäre Regime in Peking einer Fregatte der deutschen Marine das freundschaftliche Anlegen in Chinas Häfen untersagt? Wie soll die EU den Machtwechsel in volatilen Regime wie Belarus oder der Türkei begleiten?

Sollen alle sechs Westbalkanstaaten der EU beitreten – und wenn nicht, was dann? Und soll die Union ihre Interessen notfalls auch militärisch untermauern dürfen, wie es die derzeit allseits vorgebrachte „strategische Autonomie“ oder „Weltpolitikfähigkeit“ logischerweise gebieten würde? „Wir schaffen das“, Merkels berühmte Maxime aus der Migrationskrise 2015, ist auch auf die Baustelle Europa anwendbar. Schafft ihr Nachfolger, ihre Nachfolgerin das nicht, ist zu befürchten, dass es uns schafft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2021)

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