Krise

An wen denken Sie beim Wir?

Überprüfung der Komfortzone: Droht der soziale Konsens zu zerbrechen?
Überprüfung der Komfortzone: Droht der soziale Konsens zu zerbrechen?Stephan Rumpf / SZ-Photo / pictu
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Wir alle haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Solidarität zu einer Gruppe verpflichtet. Zu große Vielfalt von Verhaltensweisen wird aber meist nicht toleriert. Über das Wir, das Ich – und alle, die wir kennen.

Wir sehen 13.000 weiße Stühle auf einer weiten grünen Fläche, vor einem staatstragend schweren Gebäude, das keinen Schatten auf sie wirft. In geometrischer Strenge ausgerichtet, stehen die Stühle unter einem blauen Himmel. Wolken ziehen vorbei. Es ist Anfang September 2020 in Berlin, das Gebäude ist der Reichstag, aber Veranstaltung ist keine geplant, die Stühle werden unbesetzt bleiben. Es sind so viele an der Zahl, wie zu diesem Zeitpunkt Menschen im griechischen Flüchtlingslager Moria leben. Verschiedene Hilfsorganisationen in einem Zusammenschluss, darunter Sea-Watch, wollen mit der Aktion einmal mehr auf die Notwendigkeit der Evakuierung der Geflüchteten aufmerksam machen. Auf die Verschlimmerung der Lage durch die Bestätigung der ersten positiven Covid-19-Fälle an einem Ort, wo ohnehin schon akute Notstände herrschen. Wenige Tage später wird das Lager bei einem Großbrand zerstört, die Mehrzahl der Menschen wird danach unter noch widrigeren Lebensbedingungen im Lager Kara Tepe untergebracht.

„Wir müssen die Debatte deemotionalisieren, wir müssen sie rationalisieren“, sagt der österreichische Außenminister Schallenberg, dem „Geschrei nach Verteilung“ dürfe nicht nachgegeben werden. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz spricht sich klar dagegen aus, auch nur einzelne Minderjährige aus dem Lager aufzunehmen. Es wäre eine Wiederholung der Fehler der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, wird von ÖVP-Vertreter:innen gebetsmühlenartig wiederholt. „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“ Kurz' Aussage aus dem Jahr 2016, als er noch Außenminister im Regierungsteam von Christian Kern war: ein Es, das klar für die Festung Europa steht und gegen jedes Menschenrecht. Auch die deutsche Bundesregierung bleibt einmal mehr dabei: Eine sogenannte europäische Lösung hat Vorrang vor nationalen Alleingängen.

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