Der Präsident ordnet "notfalls auch gewaltsame" Räumung der Treibstoffdepot-Blockaden an. Auch die Gewerkschaftszentralen sind besorgt: Proteste der Mittelschüler und Studenten drohen außer Kontrolle zu geraten.
Paris. Nach tagelangen Massendemos und Blockaden ist der Regierung von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy jetzt der Kragen geplatzt: Man werde „alle polizeilichen Mittel, notfalls auch Gewalt“ einsetzen, um die Treibstoffversorgung zu gewährleisten. „Das Streikrecht erlaubt es nicht, den freien Verkehr und die Arbeit zu behindern“, polterte Sarkozy am Mittwoch. Viele Franzosen könnten nicht zur Arbeit fahren, weil ihnen wegen der Proteste Benzin oder Diesel fehlten.
Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei
Etwa einem Drittel der 12500 Tankstellen ist inzwischen der Sprit ausgegangen. „Wir werden so viele Depots wie möglich räumen“, drohte gestern Innenminister Brice Hortefeux. Bereits in der Nacht hatte die Polizei drei blockierte Zugänge zu Treibstofflagern in Westfrankreich geräumt, wo die Versorgung besonders prekär ist. Mit mäßigem Erfolg: Etwas später errichteten Streikende neue Sperren. In diesem Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei scheinen die Gewerkschaften bisher die Oberhand zu behalten. Gestern Früh besetzten rund 800 Demonstranten alle Zufahrten zum Flugplatz von Toulouse. Kleinere Gruppen brachten zeitweise den Verkehr auf den Autobahnen zum Erliegen. In Rouen genügte es, dass ein paar Fahrzeuge auf der Ringautobahn im Schneckentempo fuhren, um einen Riesenstau zu provozieren.
Seit mehr als einer Woche streiken hunderttausende Franzosen gegen die geplante Anhebung des Pensionsalters von 60 auf 62 Jahren. Heute, Donnerstag, soll die Reform im Senat verabschiedet werden. Präsident Sarkozy warnte am Mittwoch vor den wirtschaftlichen Folgen der Demonstrationen. Der französische Kleinunternehmerverband bezifferte die Umsatzeinbußen auf mehr als 300 Millionen Euro pro Streiktag.
Bisher wurden die Proteste von bis zu 70 Prozent der Franzosen unterstützt. Doch Bilder von brennenden Mülltonnen, die gewaltsamen Krawalle bei Jugend-Demos sowie die unpopulären Streiks der Müllabfuhr in Marseille, wo sich nach neun Tagen mehr als 5000 Tonnen stinkende Abfälle in den Straßen des Zentrums türmen, könnten diese Begeisterung dämpfen.
Und darauf setzt Paris. Hoffnung geben der Regierung die neuesten Umfrageergebnisse: Darin fordern weiterhin 79 der Befragten Verhandlungen über die umstrittene Pensions-Reform, allerdings sind 54 Prozent gegen radikale Aktionen wie die Behinderung der Treibstofflieferungen.
Eskalationen bei Jugenddemos
Eine gefährliche Eskalation droht aber vor allem bei den Jugendprotesten. Denn die Mittelschüler wollen ihre Demonstrationen nicht nur fortzusetzen, sondern planen noch lautere und radikalere Aktionen. Am heutigen Donnerstag werden sie gemeinsam mit den Universitäts-Studenten, die sich anfangs nur zögernd angeschlossen hatten, in Paris demonstrieren.
Das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzung wird dabei sowohl von den Behörden – als auch von besorgen Gewerkschaftszentralen – als „sehr hoch“ eingeschätzt. Zuletzt hatten sich vermehrt gewalttätige Randalierer aus den Vorstädten unter die Demonstranten gemischt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2010)