Mein Freitag

Nichts ist verloren, es ist nur woanders

SAISONSTART - WIENER BAeDER: KONGRESSBAD
SAISONSTART - WIENER BAeDER: KONGRESSBADAPA/HERBERT NEUBAUER
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Vieles wird nie abgeholt. Einiges wird wahrscheinlich gar nicht vermisst: Die Welt der verlorenen Dinge ist riesig.

Das Fundamt der Stadt Wien ist ein tröstlicher Ort. Wer glaubt, der einzige Schussel zu sein, der ständig etwas verliert, findet hier ein bisher unbemerktes Universum, eine Welt der verlorenen Dinge, die riesiger ist als die der sesshaften. Der Zugang zu ihr unterliegt strengen Regeln. Zunächst braucht es den begründeten Verdacht, ein bestimmtes Stück hier aufzuspüren, dann einen persönlichen Termin plus Codewort für das Passieren der Schranke.

Jeder Fund wird online erfasst und detailliert beschrieben. In diesem Fall handelt es sich um einen Schlüsselbund. Fragen Sie nicht, wie man den verliert, Tausende andere tun es auch, ständig, überall. Rund 200 landen hier pro Monat, erzählt die Dame, und an jedem hängt eine Geschichte. Da baumeln Teddybären und Herzen am Schlüsselring, Einkaufswagenchips, Kleeblätter, Karabiner, Maßbänder, Trillerpfeifen, „My home is my castle“-Sprüche, ÖVP-, FPÖ–, SPÖ-Schlüsselbänder. Nichts, was auf Neos oder Grüne hinweisen würde, entweder umfasst ihr Merchandising keine Schlüsselanhänger oder ihre Wähler verlieren nichts. Bei Autoschlüsseln war die meistgefundene Marke im September übrigens Mercedes.

Die eigenen Schlüssel hier wiederzufinden löst Glücksgefühle aus. Die Dame am Schalter freut sich mit. Ein schöner Job ist das, sage ich, und sie erzählt, wie sie jenen, die enttäuscht wieder gehen, rät, nicht aufzugeben. Manchmal dauert es. Vieles wird nie abgeholt. Einiges wird wahrscheinlich gar nicht vermisst.

So ist das auch beim Wiedersehen mit vielen nach der langen Zeit daheim. Der eine lacht immer noch viel zu laut über richtig müde Witze, die andere ist ihrem Klingelton aus der Hölle treu geblieben, es gibt wieder Debatten über Fenster auf oder zu, mittags ziehen intensive Zwiebelschwaden durch die Gänge, und man merkt, wie sehr einem das gefehlt hat. Könnte sich wieder ändern. Aber man ist nicht mehr mit seinen Gedanken ganz allein, und es ist gut so.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2021)

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