Kulturwissenschaften

Wenn Gedenkmuseen die Geschichte neu schreiben (müssen)

Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest
Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest(c) imago/EST&OST (imago stock&people)
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Die Wiener Politologin Ljiljana Radonić nahm nationale Museen von Estland bis Kroatien unter die Lupe. Sie interessierte sich dafür, wie dort nach dem Fall der kommunistischen Regime von Zweitem Weltkrieg und Holocaust sowie von der Sowjetzeit erzählt wird.

„Gute Gedenkmuseen legen ihren Finger dorthin, wo es schmerzt“, sagt die Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonić. „Sie erzählen auch die ambivalente, die uneindeutige Geschichte.“ Für ihre Habilitation hat sie untersucht, wie in Gedenkmuseen von EU-Mitgliedsländern der post-sozialistischen Sphäre an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird. Die Ergebnisse sind nun in Buchform erschienen („Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen“; De Gruyter; 327 Seiten; 89,95 Euro).

Den Opfern ein Gesicht geben

„Im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen gab es ganz unterschiedliche Arten, wie Museen stellvertretend für ihr Land versucht haben, mit Europa und der EU zu kommunizieren“, so Radonić, die am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften derzeit zu globalisiertem, musealem Erinnern arbeitet. Eine Strategie, die zum Beispiel das Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest oder die Gedenkstätte für die Opfer des Konzentrationslagers Jasenovac in Kroatien verfolgten, bezeichnet sie als „Anrufung Europas“. „Hier wurde das Europäisch-Sein auch durch neue Dauerausstellungen zum Zweiten Weltkrieg unter Beweis gestellt, die sich stark an westlichen Vorbildern wie dem US-Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., orientierten.“

Typische Kennzeichen dieser Vermittlungspraxis sind dunkle Räume und ein Fokus auf einzelne Objekte der Opfer und individuelle Biografien. „Mit der neuen Dauerausstellung im Jasenovac-Gedenkmuseum wollte man so zeigen, dass man die Phase des Geschichtsrevisionismus der 1990er-Jahre überwunden hatte und man bereit für den EU-Beitritt sei“, erklärt Radonić.

Eine ganz andere Strategie fand die Forscherin in den Museen der baltischen Staaten und im Haus des Terrors in Budapest: „Dieser Museumstypus bemühte sich darum, Europa zu demonstrieren, wie stark das jeweilige Land unter dem Sozialismus und den sowjetischen Verbrechen gelitten hatte.“ In den Ausstellungen spiegelte sich das durch eine symbolische Gleichsetzung von Hakenkreuz und Roten Stern, also von Nationalsozialismus und Stalinismus, wider. „Als das größere Übel wird jedoch das sowjetische präsentiert“, so Radonić. „Das geht leider mit einer Opferkonkurrenz einher.“ Die individuelle Darstellung voller Empathie sei durchgehend der Mehrheitsbevölkerung vorbehalten. „Die Erinnerung der Jüdinnen und Juden wird im Gegenzug als bedrohlich erlebt, ihre Opfer als Leichenberge, als anonyme Masse visualisiert. Sie bekommen keine Namen. Von ihnen gibt es keine berührenden Geschichten oder persönlichen Objekte.“

Sowjets als größeres Übel

In den baltischen Ländern beschäftige sich noch am meisten das Lettische Okkupationsmuseum in Riga mit der Zeit des Nationalsozialismus. Auch die eigene Kollaboration mit den Nazis und das berüchtigte Arājs-Kommando werden erwähnt. „Aber wenn man die Textebene verlässt, sieht man den Unterschied“, so Radonić. „Es gibt über 300 Objekte von Opfern der sowjetischen Verfolgung, die sehr wirkmächtig eingesetzt werden. Das weckt unglaublich viel Empathie wie die Geschichte des Häftlings, der ein Klavier nachgebaut hat.“ Beim Holocaust-Abschnitt begnügt sich das Museum mit zum Teil erniedrigenden Fotos, die Täter aufgenommen haben, etwa von Frauen in Unterwäsche, Sekunden vor ihrer Erschießung, und anonymen Davidsternen. „Namentlich und mit Foto werden nur die sogenannten Judenretter gezeigt.“

Neben den beiden strategischen Haupttypen machte Radonić auch Ausreißer wie das ästhetisch hell gestaltete Memorial Terezín in Tschechien und Mischformen aus. Das Museum der Zeitgeschichte Sloweniens bereitet mit sich teilweise widersprechenden Geschichten wiederum ein möglicherweise irritierendes Besuchserlebnis. Eine Sonderrolle nehmen Bulgarien und Rumänien ein: „Die dortigen in einer sozialistischen Tradition stehenden Museen wurden nach 1990 geschlossen, um überarbeitet zu werden – allerdings wurden sie nie wieder aufgemacht.“ Radonićs Suche nach anderen Orten, an denen die politische Geschichte der zwei Länder erzählt wird, blieb erfolglos: „Man drückt sich davor oder begnügt sich mit einzelnen Vitrinen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2021)

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