Der wahrscheinliche Wahlerfolg der SPD bedeutet noch nicht die Kanzlerschaft. Die Union stellt auch als Zweite den Führungsanspruch. Zähe Koalitionsverhandlungen stehen bevor.
Zumindest für Rolf Mützenich ist das Ergebnis klar. „Der rote Balken ist nach oben gegangen“, sagte der SPD-Fraktionschef im Willy-Brandt-Haus in Berlin der „Presse“. „Der schwarze ist dramatisch abgestürzt. Wer so abschmiert und so viel Dreck auf den politischen Konkurrenten geworfen hat, der hat die Regierungsfähigkeit für dieses Land verloren.“
Das Rennen war eng und in der Wahlnacht zunächst nicht klar, wer auf dem ersten Platz landete, auch wenn der hauchdünne Vorsprung der SPD von Stunde zu Stunde wuchs. „Nicht immer war die Partei, die auf eins war, auch die, die den Kanzler stellte“, sagte CDU-Chef Armin Laschet trotzig.
Die Republik sucht einen Nachfolger für Angela Merkel (CDU). Sowohl Olaf Scholz als auch Armin Laschet sehen sich als Anwärter. „Kanzler für Deutschland“, ließ Scholz im Wahlkampf neben seinem Konterfei plakatieren. Laschet sprach am Sonntag von einer „Zukunftskoalition“, die er trotz der großen Verluste bilden wolle.
Zwei Varianten machten noch am Wahlabend die Runde: Sie heißen Ampel und Jamaika. In beiden regieren Grüne und FDP mit. In der ersten Variante unter einem SPD-Kanzler, in der zweiten mit einem Mann der Union an der Spitze.
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„Mitte gestärkt, Ränder geschwächt“
Die Deutschen haben gewählt, doch das Kanzleramt besetzen am Ende nicht sie, sondern der Bundestag, das deutsche Parlament. Die Grünen begannen noch vor Mitternacht damit, sich zu beraten, mit wem sie gerne regieren würden. FDP-Chef Christian Lindner sah „die Mitte gestärkt, die Ränder geschwächt“. Damit meinte er vor allem das Ergebnis der Linkspartei, die um ihren Verbleib im Bundestag bangen muss. Schlecht sah es demnach in den Hochrechnungen auch für eine rot-grün-rote Koalition aus, die nicht nur Bürgerlichen als Schreckgespenst galt. Sie ist rechnerisch unwahrscheinlich, sollte es die Linke ins Parlament schaffen. Lindner unterbreitete den Grünen am Wahlabend ein interessantes Angebot. Er schlug vor, dass die beiden kleinen Parteien zuerst miteinander reden sollten und erst dann mit SPD oder der Union.
Deutschland steht eine Zeit der Verhandlungen und Taktiererei bevor. Vor vier Jahren dauerte diese 172 Tage, beinahe ein halbes Jahr. Und das, obwohl das Wahlergebnis damals eindeutiger war als dieses Mal: Die CDU/CSU lag mit 33 Prozent mehr als zehn Prozentpunkte vor der zweitplatzierten SPD mit 20,5 Prozent, Dritter wurde die rechte Alternative für Deutschland (12,6 Prozent). Ein Linksruck ist das Ergebnis nicht – Scholz gilt als Mann der Mitte. Sein Wahlergebnis ist im historischen Vergleich für einen zukünftigen Kanzler bescheiden. Sowohl Laschet als auch Scholz erklärten, im Idealfall noch vor Weihnachten eine neue Regierung ausverhandeln zu wollen.
Der Wahlsonntag markierte auch eine andere Zäsur: Mit ihm begann nach eineinhalb Jahrzehnten unter Merkel ein Umbruch, wie es ihn in der Bundesrepublik lange nicht mehr gab. Helmut Kohl (CDU) wurde im Jahr 1998 abgewählt, sein Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2005. Die laut Umfragen noch immer beliebte Kanzlerin Merkel trat nicht mehr an.
Europa muss warten, wer das mächtigste Land des Kontinents in die Zukunft führen wird. Der deutsche Umbruch gerät in eine Zeit hoher geopolitischer Instabilität. Die US-Regierung fordert in ihrem Wettbewerb der Systeme mit China eine Positionierung der verbündeten Europäer. Das zersplitterte Wahlergebnis hat es nicht wahrscheinlicher gemacht, dass Europa in nächster Zeit mit einer Stimme sprechen könnte.