Philosophicum Lech

Auch die Denker lassen sich gerne täuschen

Der Himmel über der südlichen Hemisphäre, aus dem „Atlas universalis“ des Andreas Cellarius von 1708. Unser Bild des Kosmos ist sicher näher an der Wahrheit – aber immer noch fiktiv.
Der Himmel über der südlichen Hemisphäre, aus dem „Atlas universalis“ des Andreas Cellarius von 1708. Unser Bild des Kosmos ist sicher näher an der Wahrheit – aber immer noch fiktiv.imago images/Artokoloro
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Gefährliche Illusion, lebensnotwendiges Als-ob: Zum Abschluss der Tagung in den Bergen wurde das Leitmotiv facettenreich variiert – an der Astrophysik, Dürers Hasen und Sex mit Robotern. So fulminant wie fragwürdig.

Wie naiv waren unsere Ahnen! Ihren Nachthimmel bevölkerten Götter und Monster. Aber sind wir wirklich so viel weiter? Die entdeckten Phänomene klingen verdächtig poetisch: Zuerst hat es einen Knall gegeben, und nun tummeln sich da oben rote Riesen, weiße Zwerge und schwarze Löcher – die, wie ein „Foto“ suggeriert, orange Ringe umschließen. Das hat man am Computer gemalt, verrät Sibylle Anderl. Die Astrophysikerin ist auch Philosophin, sie weiß, wie methodisch prekär ihre Disziplin ist: keine Experimente im Labor, nur Beobachtungen aus der Ferne. Also an Daten unterdeterminiert, was durch viel Rechnerei zu füllen ist, in Modellen. Es bleibt unklar, ob schwarze Materie und schwarze Energie (sie müssten 90 Prozent von allem ausmachen) wirklich existieren. Es gibt ein Gegenmodell, seine Gleichungen sind weniger schön – aber ist das ein Kriterium für Wahrheit? Sogar der Urknall ist „nicht in Stein gemeißelt“: Für die ersten Sekunden gibt es Lücken im Elementarteilchenmodell. Wollen wir Erkenntnisgrenzen ausdehnen, müssen wir uns ganz der Mathematik verschreiben. Und das heißt: auf Poppers Ideal der Falsifikation verzichten.

Doch so faszinierend diese kosmischen Fragen sind: Wir haben hienieden andere Sorgen. Die einen fürchten eine Klimakatastrophe, die anderen Asylmissbrauch. Dass wir in einer so diversen Gesellschaft noch auf gemeinsame Werte setzen könnten, hält Andreas Urs Sommer für eine gefährliche Illusion. Aber der Kulturphilosoph ersetzt sie – getreu dem Leitmotiv von Zeremonienmeister Konrad Paul Liessmann – durch lebensdienliche, geteilte Fiktionen: mündige Bürger, partizipative Demokratie. Auch sie sind erdacht, aber wenn wir fest daran glauben und sie einüben, machen wir sie vielleicht wahr, wie die regulativen Ideen von Kant. Auf dem Weg dorthin müssen aber auch Fiktionen konkurrieren, sonst erstarren sie zur Ideologie. Am Ende stünde keine Tyrannei der Mehrheit, sondern mehr Freiraum für alle. Klingt gut, aber wie soll die direkte Demokratie funktionieren? Wie in der Schweiz. Nur übt man dort halt schon viel länger.

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