Bei dem mit über 300 Milliarden Dollar verschuldeten Konzern Evergrande spitzt sich die Situation zu. Verantwortlich für das Debakel ist vor allem Firmengründer Xu Jiayin.
Peking. Der angeschlagene chinesische Immobilienkonzern Evergrande hält China und die internationalen Finanzmärkte weiter in Atem. Am Freitag ließ das Unternehmen eine wichtige Zahlungsfrist von knapp 84 Millionen Dollar an Geldgeber aus dem Ausland kommentarlos verstreichen. Der Schuldenberg des Konzerns beträgt bereits über 300 Milliarden Dollar. Ein offizieller Zahlungsausfall kann zwar erst in weiteren 30 Tagen festgestellt werden. Dennoch ist die Lage des Konzerns mehr als dramatisch.
Laut „Wall Street Journal“ soll die Führung in Peking Lokalregierungen dazu aufgefordert haben, sich auf ökonomische und soziale Folgen einer Pleite des Konzerns einzustellen. Dieser wohnt die Gefahr von sozialen Unruhen inne: Immerhin warten rund 1,4 Millionen Käufer auf den Bau oder die Fertigstellung von Evergrande-Wohnungen. Damit diese nicht leer ausgehen, sollen laut Finanzmagazin „Caixin“ Lokalregierungen von mindestens acht Provinzen bereits Ende August Sicherheitskonten eingerichtet haben, um sicherzustellen, dass die Gelder von Immobilienkäufern für die Fertigstellung von Bauvorhaben verwendet werden, und nicht für Rückzahlungen an Gläubiger.
Wer steht hinter dem Konzern?
Um das System Evergrande besser verstehen zu können, muss man einen Blick auf den Mann hinter dem Unternehmen werfen. Denn die Lebensgeschichte von Xu Jiayin spiegelt auf eindrückliche Weise die rasante Aufstiegsgeschichte seines Heimatlandes wider. Der 62-Jährige ist mit seinem unbedingten Aufstiegswillen, einer gehörigen Portion Schlitzohrigkeit und Hang zum Größenwahn die Personifizierung des chinesischen Wirtschaftswunders der Nullerjahre.
Dabei teilte ihm das Schicksal kein gutes Los zu. 1958 in der Provinz Henan geboren, starb Xus Mutter nur wenige Monate später an einer Blutvergiftung. Der Vater brachte die Familie als Lagerhausarbeiter mehr schlecht als recht über die Runden. Dass er in den 1940er-Jahren als Soldat gegen die japanische Armee kämpfte, half jedoch während der Hungersnöte unter Mao Zedong, den Zugang zu staatlichen Essensrationen nicht zu verlieren.
In jenen Jahren wuchs Xu Jiayins unbedingter Wille, der tristen Armut zu entfliehen. Doch noch hielt das kommunistische Land die unternehmerische Energie seiner Bevölkerung unter Verschluss. Als nach den Wirren der Kulturrevolution (1966-76) die Universitäten wieder öffneten, absolvierte der schon damals zielstrebige Xu ein Hochschulstudium in Wuhan.
Als 20-Jähriger heuerte er schließlich bei einem Stahlwerk an, wo er schon bald eine leitende Position ergatterte. Erst Reformer Deng Xiaoping gab mit seinem privatwirtschaftlichen Öffnungskurs das Aufbruchssignal für die Abermillionen ambitionierter Chinesen, die bereits in den Startlöchern harrten. Xu zog in die Sonderwirtschaftszone Shenzhen, wo er von dem boomenden Immobiliensektor profitieren wollte.
Dort entwickelt er ein einfaches wie geniales Geschäftsmodell: Er versorgt die neue Mittel- und Oberschicht, die jedes Jahr um mehrere zehn Millionen Menschen anwächst, mit modernen Appartementsiedlungen. Sein expansiver Kurs ist dabei von Beginn an auf Verschuldung aufgebaut: Er denkt im Vergleich zur Konkurrenz stets eine Nummer größer, in über 280 Städten baut Evergrande riesige Immobilienprojekte, beschäftigt mehr als 200.000 Mitarbeiter und generiert indirekt fast vier Millionen Jobs.
Geschäft und politisches Netzwerk
Auch seine Ehe, so scheint es, passt perfekt in den Karriereplan: Ding Yumei ist die Tochter eines hochrangigen Parteisekretärs. Jene Fusion aus unternehmerischem Talent und politischem Netzwerk bildet die Grundlage des Firmenerfolgs.
Dass Xu die Gunst der mächtigsten Parteikader Pekings mit millionenteuren Geschenken erkauft, beschreibt der einstige Immobilienentwickler Desmond Shum in seinem jüngst erschienenen Buch „Red Roulette“: Bei einem gemeinsamen Europa-Trip der beiden besichtigte der heute 62-jährige Xu im Süden Frankreichs eine 100 Millionen Dollar teure Jacht. Sein Plan war es, einen Privatclub zu etablieren, um auf hoher See – weit entfernt von Paparazzi und Aufsichtsbehörden – hochrangige Politiker ungestört mit teuren Weinen und schönen Frauen zu unterhalten.
»Ich glaube fest daran, dass Evergrande niemals aufgeben wird.«
Xu Jiayi
Doch Xu verbrennt sich bei seinem unternehmerischen Höhenflug irgendwann die Flügel: Evergrande expandiert in den vergangenen Jahren in Internetdienste, Elektroautos, Mineralwasser und Versicherungen. Der Konzern pumpt zudem etliche Milliarden in das Fußballteam Evergrande FC, welches teure Stürmerstars aus Brasilien anheuert.
Dass sich Xu Jiayin diesmal endgültig verzockt hat, gilt unter Branchenbeobachtern als gesichert. Ein Comeback scheint unter Staatschef Xi Jinping, der rigoros gegen die Exzesse der Unternehmenselite vorgeht, als unwahrscheinlich. Nur Xu selbst gibt sich weiterhin kampfbewusst: „Ich glaube fest daran, dass Evergrande niemals aufgeben wird“, schrieb er vergangene Woche in einem Sammelmail an seine Angestellten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2021)