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"Deutschland muss sich an diese Unübersichtlichkeit erst gewöhnen"

Nicht nur in Deutschland landete der Kampf um die Kanzlerschaft auf den Titelseiten.
Nicht nur in Deutschland landete der Kampf um die Kanzlerschaft auf den Titelseiten.REUTERS
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Das "Wall Street Journal“ schreibt von einem „Status quo statt Neuausrichtung in Deutschland, "The Age“ ortet wenig Begeisterung für die Kanzlerkandidaten und die „NZZ“ sieht eine schwache Verhandlungsbasis für Laschet.

"Wall Street Journal" (New York):

"Die deutschen Wähler haben am Sonntag gesprochen, und nun müssen sie wochenlang warten, bis ihnen jemand sagt, was sie gesagt haben. Die Ergebnisse sind ein Kuddelmuddel, und eine komplexe Koalitionspolitik wird darüber entscheiden, welchen Weg das Land nach der Ära Angela Merkels einschlägt. (...)

Wer immer auch am Ende das Sagen hat, Berlin steht vor ernsthaften Herausforderungen, wenn es darum geht, produktive Investitionen und Innovationen im eigenen Land anzukurbeln, große Migrantenströme zu bewältigen, auf die zunehmenden strategischen Bedrohungen aus China und Russland zu reagieren und gute Beziehungen zu den Nachbarn sowie den USA zu pflegen.

Während Deutschland sich auf langwieriges Koalitionsgerangel einstellt, kann man kaum den Schluss vermeiden, dass Parteien und Wähler einen statischen Status quo einer klaren Neuausrichtung vorziehen."

"The Age" (Melbourne):

"Deutschland steht vor wochenlangen, wenn nicht monatelangen Verhandlungen über die Nachfolge von Angela Merkel als Kanzlerin. Es war eine knappe Wahl, bei der die Wähler wenig Begeisterung für die Kandidaten gezeigt haben, die um die Führung der größten Volkswirtschaft Europas kämpfen. Merkel, die in ihrer 16-jährigen Amtszeit als Königin von Europa und mächtigste Frau der Welt bezeichnet wurde, wird bis zur Bildung einer neuen Koalition an der Macht bleiben. Ihre große Popularität hat sich nicht in einer Unterstützung für ihre Mitte-Rechts-Partei, die Christlich Demokratische Union (CDU), und deren Kanzlerkandidaten Armin Laschet niedergeschlagen. (...) Aber letztlich wird keine der großen Parteien mit ihrem Ergebnis zufrieden sein."

"Rossijskaja Gaseta" (Moskau):

"Zwei Kanzlerkandidaten auf einmal - Olaf Scholz von der SPD und Armin Laschet von der CDU - traten triumphierend vor ihre Anhänger und bekundeten ihre Bereitschaft, die künftige Regierung zu führen. Bisher gibt es kaum Zweifel an einem Punkt: Deutschland wird eine Dreier-Koalition auf Bundesebene erhalten. Tatsächlich steht der wichtigste politische Kampf erst noch bevor. (...) Und viele Experten glauben, dass es wirklich früh ist, Laschet abzuschreiben. Zugleich erklärte der sozialdemokratische Kandidat selbstbewusst: "Die Bürger wollen, dass der neue Kanzler Olaf Scholz heißt."

"Tages-Anzeiger" (Zürich):

"Viele Deutsche wissen, dass das Land vor grossen Herausforderungen steht. Scholz stellte einen Wandel in Aussicht, der den Menschen so wenig wie möglich abverlangt - wie bei Angela Merkel eben.

Seine Chancen sind nun intakt, als vierter Sozialdemokrat nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder Kanzler zu werden. Einfach wird es nicht, aber dem exzellenten Verhandler Scholz ist es zuzutrauen, FDP und Grüne von einer neuartigen Mitte-Koalition zu überzeugen. (...)

Deutschland nähert sich der parlamentarischen Realität in anderen europäischen Demokratien an: Siege mit 25 Prozent der Stimmen, dahinter mehrere mittelgroße Parteien, die immer buntere Koalitionen bilden. Deutschland muss sich an diese Unübersichtlichkeit erst gewöhnen."

"Neue Zürcher Zeitung":

"Aus liberaler Perspektive könnte man versucht sein, das Jamaica-Modell der SPD-geführten Ampel vorzuziehen. Union und FDP wollen schließlich beide einen effizienteren Staat und weniger Bürokratie für die Wirtschaft, und beide haben Steuererhöhungen ausgeschlossen. Bei der Ampel könnten zwei linke Parteien, die für das Gegenteil stehen, die Liberalen in die Zange nehmen. (...)

Wer weiß, vielleicht kommt Olaf Scholz der FDP am Ende so weit entgegen, dass die Kompromisse in der Summe mehr überzeugen als das, was Armin Laschet mit den Grünen aushandeln könnte.

Denn so viel steht fest: Annalena Baerbocks Traum vom Kanzleramt mag implodiert sein, aber das Ergebnis ihrer Partei ist laut den bisherigen Hochrechnungen so stark wie nie. Ihre Parteibasis wird entsprechende Erwartungen an sie und Robert Habeck haben, einen Koalitionsvertrag auszuhandeln, der so grün ist wie keiner zuvor. Und wenn einer in einer schwachen Verhandlungsposition ist, dann Armin Laschet, der seiner Partei voraussichtlich das schlechteste Wahlergebnis der Geschichte eingebrockt hat."

"Politiken" (Kopenhagen):

"Wer nächster Kanzler wird, ist noch ungewiss. Alles deutet darauf hin, dass es Wochen oder gar Monate dauert wird, bis die künftige Regierungskoalition steht. Aber unabhängig davon ist nach der historischen Wahl vom Sonntag eine Sache klar: Die mit Abstand größte Aufgabe der nächsten Regierung ist es, Deutschland viel weiter in den Klimakampf hineinzubringen, als es jetzt ist. Das ist nicht nur für Deutschland entscheidend, sondern für die ganze EU.

Als größtes Land und dominierende Wirtschaft der Union ist Deutschland entscheidend dafür, dass die EU bei ihrer grünen Umstellung in den kommenden Jahren ins Ziel kommt - nicht nur direkt durch seine eigenen Emissionen, sondern großteils auch als tonabgebendes politisches Machtzentrum. Die Grünen haben nicht die Wahl bekommen, von der sie geträumt haben. Aber die Wahl ist zu einer Klimawahl geworden."

"Times" (London):

"Die Herausforderung für Olaf Scholz besteht darin, die wirtschaftsfreundliche FDP zu einem Pakt mit seiner SPD und den Grünen zu bewegen, die bereits signalisiert haben, dass sie gemeinsam regieren wollen. Dies würde zu einer "Ampel"-Koalition führen, benannt nach den roten, grünen und gelben Farben der drei Parteien. Allerdings würde die FDP einen hohen Preis für diesen Deal verlangen. Es wird erwartet, dass ihr Vorsitzender Christian Lindner darauf bestehen wird, das Finanzministerium zu kontrollieren und einige der Steuererhöhungen zu blockieren, die im Mittelpunkt der Wahlwerbung von SPD und Grünen standen. (...)

Die Grünen werden jedoch zögern, einige ihrer politischen Markenzeichen aufzugeben, wie zum Beispiel ein Verkaufsverbot für neue Benzin- und Dieselfahrzeuge ab 2030. Ihre Positionen zu Steuern und Ausgaben, einschließlich eines durch öffentliche Anleihen finanzierten 500-Milliarden-Euro-Investitionsprogramms, stehen in krassem Gegensatz zu denen der CDU und der FDP, die den Haushalt ausgleichen und die Steuersätze für Unternehmen senken wollen, um die Wirtschaft anzukurbeln, während sie sich von der Pandemie erholt."

"De Tijd" (Brüssel):

"Nach der letzten Bundestagswahl dauerte es fast sechs Monate, ehe in Deutschland eine neue Regierung auf die Beine gestellt wurde. Ein solches Szenario würden die Parteien diesmal gern vermeiden, doch die Karten sind ebenso schwierig verteilt wie damals. (...)

Da Angela Merkel jetzt nicht mehr dabei ist, gerät auch Deutschland in eine instabile Phase. Es wird ein Neustart gebraucht, der eine neue Stabilität ermöglicht. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn die Wähler in Deutschland scheinen ebenso launenhaft geworden zu sein wie jene im Rest Europas.

Eine baldige Koalitionsbildung in Deutschland - mit welchen Farben auch immer - wäre für Europa das beste Zeichen für Sicherheit. Doch für die angestrebte Stabilität gibt es keine Garantie. Auch in Deutschland scheint der Konsens verloren gegangen zu sein. Und das ist keine gute Nachricht - weder für Deutschland, noch für den Rest Europas."

"Sme" (Bratislava):

"Was in anderen Staaten Unsicherheit bedeuten würde, nennt man in Deutschland eine Entwicklung. Egal ob ein Sozial- oder Christdemokrat nächster deutscher Kanzler wird (...): Deutschland wird weiterhin eine stabile Demokratie sein, in der der gesunde Menschenverstand die Hauptrolle in der Politik spielen wird und populistische Parteien am Rand bleiben und wo man pragmatische Lösungen suchen wird.

Es lässt sich darüber diskutieren, wie sich das Land nach 16-jähriger Kanzlerschaft Merkels entwickeln wird. Die Vorstellung kann uns mehr oder weniger gefallen, aber das Ergebnis wird immer sein, dass Deutschland das schafft und ein stabiler, konstruktiver Teil der Europäischen Union sein wird. Klingt das langweilig? Möglicherweise ja, aber so soll eine funktionierende Demokratie aussehen, wie Deutschland sie ist. So, dass auch Schlüsselwahlen sie nicht bedrohen. Das ist vielleicht langweilig, aber es ist gut."

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(APA)

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