Auf den Spuren einer Pfarrersfamilie: Jonathan Franzen.
Buch der Woche

Jonathan Franzens Gott ist geduldig

Aus welchen seltsamen Gründen Menschen zum Glauben finden! In seinem jüngsten Roman begleitet der Bestseller-Autor eine Pfarrers-Familie.

Die Reise war lange geplant gewesen. Sie hat dafür gehungert, sie hat dafür gelogen, sie hat sich mit dem Mietwagen sogar auf die höllischen Freeways von Los Angeles getraut, nur um ihn wiederzusehen, nach dreißig Jahren. Genauer: um sich selbst wiederzuentdecken, die waghalsige, dünne, junge Frau, die sie gewesen war, als sie noch nicht den zweiten Pfarrer der Gemeinde geheiratet, nicht eins, zwei, drei, vier Kinder auf die Welt gebracht hatte. Doch dann macht er die Tür auf, der so lange Begehrte, hat's mit der Hüfte und züchtet Hyazinthen, und tja: Da funkt nichts mehr. Einen Eiersalat und Dutzende Fotos von Bradleys Enkeln später verabschiedet sich Marion, tätschelt ihm den Kopf – und da taucht er auf in ihren Gedanken: Gott! Gott, sagt sie sich, habe ihr Klarheit geschenkt, den rechten Weg gezeigt, nun könne sie in seiner „Billigung baden“, er würde die Hand über sie halten. Darob hochgestimmt steigt sie in den Wagen. „Alles war Licht. Die Welt war voller Licht.“

Aus welch seltsamen, egoistischen, halluzinogenen, ja feigen Gründen die Menschen in Jonathan Franzens Roman „Crossroads“ zum Glauben (zurück)finden! Und wofür Gott alles herhalten muss! Wenn es sein muss, liefert er die Entschuldigung für Hass, Betrug und vorehelichen Sex (wir sind in den 1970er-Jahren) frei Haus, irgendwie, bei rechtem religiösem Licht besehen, scheint alles erlaubt oder zumindest nicht streng verboten, weshalb auch der Zweitpfarrer nicht zögert, einem attraktiven weiblichen Gemeindemitglied ein paar Blues-Platten ans Herz zu legen. Er könne sie ihr gerne borgen, sie sind in seinem Büro, ob sie ihn nicht begleiten mag?

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