Die Zeit an der Gurgel packen. Elfriede Jelinek im Prater, 2007.
Literatur

Gebrüllt, nicht gesprochen

Ich habe Jelineks Theater immer genossen, aber diesmal ist alles echt. Ich erlebe dystopische Wirklichkeit. Die menschliche Komödie ist im Gange, die Geschichten der Schlitzohren auszubrüten.

Kehrt das „Genie“ zurück? Oder bin ich es, die entgegen ihrer Überzeugung einen Schutzgeist im „Genie“ sucht? Ich habe mich mit Honoré de Balzacs menschlicher Komödie beschäftigt, gerade seinen Roman „Verlorene Illusionen“ zugeschlagen und mich dann dem „Neid“, Elfriede Jelineks Monsterwerk, im Internet ausgesetzt. Ich habe mich während der Lektüre klein gefühlt wie die Literaturnobelpreisträgerin vielleicht gegenüber Marianne Fritz' Textmassiv. Es sei so groß, dass es in sie nicht hineinpasse, habe ich die Autorin sagen hören.

Ich machte folgende Erfahrung: dass ich Balzac lieber blättere, aber Jelinek lieber scrolle. Letzteres entspricht dem Kreisen der Möwe über dem Datenmeer, das Blättern dem Pflügen mit bloßen Händen durch Wälzer. Ich habe gerade über das Erleben der Lektüren nachgedacht, als ich, für mein Werkleben eine Leseweise überlegend, mit der Jelinek im Computer und dem Balzac in der Tasche die Stiege hinuntergegangen bin, einen utopischen Roman über gelungene Selbstbefreiung im Postkasten erwartend. An eine Welt ohne Korruption habe ich gedacht, als ich den Schlüssel ertastete. Aber in welcher Zeit schreiben, denke ich, habe ich mich gefragt, und plötzlich sprang das Tempus ins Futurum exaktum um: In welcher Zeit wirst du gelebt haben? Dadurch ist das Memento vitae, ein Was-erlebst-du-gerade, ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit gerückt.

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