Quergeschrieben

Geschichtsvergessenheit, die von links kommt, ist auch nicht tolerabel

Just nach dem kommunistischen Erdrutschsieg in Graz ist einer der prominentesten chinesisches Dissidenten Ehrengast bei Literatur im Nebel im Waldviertel.

Als Teenager hatte ich ein Che-Guevara-Poster an der Wand, Mao fand ich cool. Dass Chinas Großer Sprung nach vorn und die Kulturrevolution für Millionen Menschen vor allem Chancengleichheit auf Hungertod bedeuteten, hielt ich für Lügen. Es war mein Geschichtsprofessor am Klagenfurter (Mädchen-)Gymnasium, der mir die Augen öffnete: über die mit nichts zu vergleichende industrielle Massenmordmaschinerie der Nazis; über Stalins Säuberungen, Schauprozesse, Gulags und Jahre des Großen Terrors; und auch über Mao Zedongs Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Meine Begeisterung für den real existierenden Kommunismus made in UdSSR, China, Nordkorea, Rumänien, Kambodscha et al. verglühte. Jahrzehnte später bereiste ich China.

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Xintiandi, das ehemalige Arbeiterviertel Shanghais, wo 1921 der erste Kongress der kommunistischen Partei stattfand, ist heute ein schicker, mit teuersten Boutiquen gespickter Ausgehbezirk. Die Verwandlung ist symptomatisch für das Land, in dem Turbokapitalismus und Turbokommunismus ungebremst aufeinanderkrachen. Der große Vorsitzende prangt immer noch auf Geldscheinen. Über Mao öffentlich äußern will sich niemand. „Wir planten zu 50 Jahren Kulturrevolution eine kritische Ausstellung“, erzählte ein Shanghaier Galerist, „aber das wurde von zentraler Stelle sofort abgedreht.“ Von zentraler Stelle wurde während der Vernissage auch plötzlich das Licht in allen Lofts auf der Moganshan Road abgedreht, weil eine Galerie vermeintlich subversive Kunst zeigte. China ist ein lupenreiner Überwachungsstaat, Zehntausende Sicherheitsbeamte filtern Medien, kontrollieren das Internet. Wer Begriffe wie „Demokratie“, „Tibet“ , „Sex“ oder „Diktatur“ anklickt, riskiert eine mehrjährige Haftstrafe.

All das fällt mir ein – nein, nicht wegen des Erdrutschsiegs der KPÖ in Graz, sondern wegen des diesjährigen Ehrengasts von Literatur im Nebel in Heidenreichstein. Freitag und Samstag wird einer der prominentesten chinesischen Dissidenten, der Schriftsteller und Musiker Liao Yiwu, mit einem Lesefest im Waldviertel geehrt (das ich – aus Compliance-Gründen sei es erwähnt – seit seinen Anfängen moderiere).

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