Die Gewerkschaften denken nicht daran, den Widerstand gegen Präsident Sarkozys Pensionsreform aufzugeben. Denn das System der "sozialen Sicherheit" gilt in Frankreich als "heilig".
PARIS. „Frankreich lebt über seine Verhältnisse!“ Das sagte schon im Juni 2005 der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Thierry Breton. Und präzisierte: „In 25Jahren haben wir so enorme Defizite akkumuliert, dass jetzt jedes neugeborene Kind mit 17.200 Euro Schulden pro Kopf auf die Welt kommt.“ Der frühere France-Télécom-Chef konnte rechnen. Doch seine Ministerkollegen baten ihn, die Bürger nicht mit Katastrophenszenarien zu erschrecken. Breton hielt danach aus Loyalität den Mund. Recht hatte er trotzdem.
Schon 2006 dienten die gesamten Einnahmen der Einkommensteuer zur Begleichung des Schuldendiensts, statt zur Finanzierung von Schulen, Krippen oder Spitälern, wie Breton bitter anmerkte.
Weil keine Weichenstellung erfolgte, hat sich die Lage seither verschlimmert. Jetzt könnten nur drakonische Eingriffe Frankreich finanziell retten: entweder drastische Einsparungen der öffentlichen Ausgaben und Verminderungen der Zahl der Staatsangestellten oder massive Steuererhöhungen. Und Maßnahmen im öffentlichen Sozialversicherungssystem, das nicht nur die Altersvorsorge, sondern auch Versicherungen für Hinterbliebene, eine Krankenkasse mit Grundleistungen und die Familienzulagen umfasst.
All diese Maßnahmen sind höchst unpopulär: Der Widerstand gegen die geplante Pensionsreform ist ungebrochen. Doch die Regierung schaltet auf stur: Mit der Verabschiedung der Reform werde endlich Schluss mit den Aktionen dagegen sein, sagte Arbeitsminister Eric Woerth vor der Marathonsitzung des Senats am Freitagabend. Denn mit der Zustimmung der Volksvertreter verliere der Widerstand gegen die Pensionsreform jede Legitimität, so Woerth.
Sturm auf besetzte Raffinerie
Anders sehen das die Gewerkschaften, die sich trotz anfänglicher Meinungsverschiedenheiten doch geschlossen auf zwei weitere Aktionstage am 28.Oktober und 6.November geeinigt haben.
Die Regierung setzt derweil auf eine immer härtere Gangart gegen Streikende und Demonstranten. Gestern ließ sie eine der Bastionen des Widerstands stürmen. In aller Früh gingen Einheiten der Gendarmerie vor der seit zehn Tagen besetzten Erdölraffinerie „Les Grandpuits“ von Total im Südosten von Paris in Stellung. Der Polizeipräfekt des Departements Seine-et-Marne persönlich überreichte den Streikenden einen Befehl, in dem zu lesen war, dass die Raffinerie im Namen der Landesverteidigung unter staatliche Kontrolle gestellt und das Personal zwangsverpflichtet werde.
„Wir sind weder im Krieg noch im Ausnahmezustand, diese Anordnung ist rechtswidrig“, protestierten die anwesenden Gewerkschafter, die rasch Verstärkung von Kollegen und Einwohnern der umliegenden Dörfer erhielten. Um 9Uhr gingen die Uniformierten in die Offensive. Bei einem Handgemenge wurden drei Streikende leicht verletzt.
Die CGT-Gewerkschaft, die die Aktion organisiert, will gegen eine „Verletzung des Streikrechts“ Klage einreichen. Gegen ihren Willen mussten einige der Total-Arbeiter zur Morgenschicht einrücken. „Das ist eine Schande, das ist Diktatur“, schimpfte einer von ihnen. Die Gewerkschaften wollen ihre Proteste fortsetzen.
Dabei ist der Reformbedarf mehr als drängend: Vielen ist durchaus bewusst, dass all die Sozialausgaben der Gesellschaft teuer zu stehen kommen und manchen Beobachtern im Ausland extravagant vorkommen müssen – wie die Senkung des gesetzlichen Pensionierungsalters auf 60 Jahre 1983 und die Einführung der 35-Stundenwoche 1998 bis 2000. Das wurde als sozialer Fortschritt gefeiert, war aber von Beginn an auf Pump finanziert.
Druck von der EU
Gleichzeitig aber kam dies auch den Interessen vieler Arbeitgeber entgegen: Sie konnten so die Kosten des frühen Ausscheidens ihrer „Senioren“ oder der gesunkenen effektiven Arbeitszeit weitgehend auf die Staatskasse und somit auf die Steuerzahler abwälzen.
Dafür, dass sie die 35-Stundenwoche erhielten, mäßigten sich Arbeitnehmer bei ihren Lohnforderungen. Viele mussten zudem wegen einer seit Ende der Achtzigerjahre anhaltenden Massenarbeitslosigkeit Einkommensausfälle erdulden, die zu Lücken bei den Pensionsbeiträgen führten und damit auch in Zukunft zu einer niedrigeren Pension.
Das erklärt, dass das System der Sécurité sociale zu einer Art heiligen Kuh wurde, an der sich keine Regierung ungestraft vergreifen durfte. Dass sich Präsident Nicolas Sarkozy trotzdem daran gewagt hat, ist auf einen starken Druck der Finanzmärkte und der EU-Partner zurückzuführen, die Frankreich zu mehr Budgetdisziplin drängen – und dazu, dass die Franzosen nicht weiter zu sehr über ihre Verhältnisse leben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2010)