US-Militärprotokolle, die im Internet veröffentlicht wurden, geben Einblick in die Brutalität des Krieges. Irakische Verbündete der USA folterten und mordeten in einem Ausmaß, das bisher nicht bekannt war.
Mittagszeit in Fallujah. Es ist der 22. Juli 2005, einer jener heißen Tage, an denen das gleißende Licht der irakischen Sonne fast blind macht. Ein schwarzer amerikanischer Geländewagen, Marke Dogde, nähert sich dem südlichen Eingang des US-Checkpoints Camp Delta. Die Soldaten geben Handzeichen, bedeuten dem Fahrer anzuhalten. Der Dodge fährt weiter. Als er 200 Meter von Posten Nummer 7 entfernt ist, bohren sich Kugeln in sein heißes Blech. Ein Marine wird später angeben, wegen der starken Sonnenstrahlung nicht in das Innere des Autos gesehen zu haben. In der Militärsprache lässt sich der Tod kurz fassen. Man benötigt nicht einmal eine Zeile, um ihn festzustellen.
„1 CIV KIA, 4 CIV WIA, 0 CF INJ.“
In der Langversion bedeutet das: ein Zivilist „killed in action“, also im Kampf getötet, vier Zivilisten „wounded in action“, keine Verletzten aufseiten der amerikanischen Truppen. Im Auto saß eine sechsköpfige irakische Familie. Eine Tochter blieb unverletzt, drei Töchter und der Vater wurden angeschossen. Ihre Mutter mussten sie nach diesem heißen Julitag begraben.
Nüchterne Feldberichte. Der Vorfall von Fallujah ist einer von 391.832. Das ist die Zahl der geheimen US-Dokumente aus dem Irak-Krieg, die die Internetplattform WikiLeaks Freitagnacht veröffentlicht hat. Die Protokolle sind voller Abkürzungen, kryptischer Buchstabenfolgen, nur Eingeweihten verständlich, nüchtern und emotionslos. Die Chronologie der berichtenswerten „Zwischenfälle“, wie es heißt, beginnt am 1. Jänner 2004 und endet am 31. Dezember 2009.
Skandalträchtige Vorfälle wie etwa die Folterungen im Abu-Ghraib-Gefängnis findet man nicht darunter; die Chronik des Irak-Kriegs schreiben die WikiLeaks-Protokolle nicht neu. Aber sie reichern sie um viele neue Details an. Sie bieten Innenansichten eines Krieges.
Das US-Verteidigungsministerium reagierte erzürnt – wie schon bei der Veröffentlichung der geheimen Afghanistan-Dokumente im Juli. Im Pentagon bemühte man sich, die Bedeutung der Protokolle herunterzuspielen. Es handle sich lediglich um herkömmliche Feldberichte, die Vorfälle seien bekannt. Julian Assange, der vor vier Jahren die Online-Veröffentlichungsplattform gründete, twitterte sarkastisch in Richtung Washington: „Selbstredend ist es ,nichts Neues‘ – für SIE.“ Der Australier, gegen den die schwedische Justiz derzeit wegen Vergewaltigungsvorwürfen ermittelt, verteidigte am Samstag bei einer Pressekonferenz die Veröffentlichung des Materials. Die Dokumente offenbarten klare Beweise für Kriegsverbrechen. Sie seien zudem redaktionell so bearbeitet, dass sie niemanden gefährdeten.
Höhere Opferzahlen. Allein die Masse der Daten wirft ein neues Licht auf den Irak-Einsatz. Laut WikiLeaks-Angaben forderte der Krieg im Irak 109.032 Todesopfer. Den größten Teil – 66.081 Menschen – machen Zivilisten aus. Das sind um 15.000 Menschen mehr als bisher angenommen. Hinzu kommen 23.984 getötete Aufständische; 15.196 irakische Regierungstruppen und 3771 amerikanische Soldaten.
Medien wie die „New York Times“, die die Protokolle auswerteten, werfen den US-Truppen Fehlverhalten vor. Bei Vorfällen an Grenzposten – wie jenem nahe Fallujah – könnten hunderte Zivilisten unter oft unklaren Umständen getötet worden sein. Außerdem soll die US-Armee Kenntnis von Folter und Ermordungen von Gefangenen durch irakische Verbündete gehabt haben. Dass man von diesen Übergriffen gewusst habe, sei durch „hunderte“ Datensätze belegt, gab WikiLeaks an – mehr als bisher eingestanden. Ermittlungen gegen die Verantwortlichen seien jedoch in den meisten Fällen ausgeblieben.
Auch der mutmaßliche Einfluss des Iran auf einzelne Gruppen von irakischen Aufständischen wird in den Dokumenten bestätigt. Weiteres pikantes Detail: Unter den 391.832 Datensätzen findet sich der Bericht eines amerikanischen Offiziers über die im Juli 2009 vom Iran verhafteten drei amerikanischen Wanderer. Diese seien gar nicht, wie vom Iran stets behauptet, auf dessen Staatsgebiet vorgedrungen, sondern seien noch auf irakischem Boden verhaftet worden. Normalerweise nennt man so etwas Kidnapping.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24. 10. 2010)