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"Jetzt oder morgen": Das Porträt einer arbeitslosen Familie

Im Schlaf verpuffen die Sorgen von Claudia und ihrem Bruder: Momentaufnahme aus „Jetzt oder morgen“.
Im Schlaf verpuffen die Sorgen von Claudia und ihrem Bruder: Momentaufnahme aus „Jetzt oder morgen“.[ Polyfilm/Takacs-Filmproduktion/Ulrich-Seidl-Film ]
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Im bemerkenswerten Dokumentarfilm „Jetzt oder morgen“ porträtiert die junge Wienerin Lisa Weber eine arbeitslose Familie. Der „Presse“ erzählt sie, wie er entstand.

Am Geburtstag glaubt man noch an Wunder. Dann heißt der Song der Stunde „When You Believe“, umwerfend intoniert von Whitney Houston und Mariah Carey. „Who knows what miracles you can achieve?“, schmettern die selbstbewussten Diven aus den Computerboxen. Und Claudia singt lauthals mit, sehr gut sogar, ihre Mutter blickt stolz zu ihr auf. Dann spürt man die Kraft, die in dieser jungen Frau steckt, dann weiß man, dass sie könnte, wenn sie wollte – wenn das Leben nicht spielen würde, wie es eben so spielt, sondern zumindest ein bisschen anders . . .

Am Geburtstag. Doch der Geburtstag ist meist ein besonderer Tag, nicht so wie die anderen. An denen ist bei Claudia und ihrer Familie im Dokumentarfilm „Jetzt oder morgen“ für gewöhnlich nicht viel los. Claudias Sohn Daniel, den sie mit 15 bekommen hat, kugelt fröhlich oder genervt durch die Wohnung im Simmeringer Gemeindebau. Ihr Bruder, Gerhard, lümmelt auf der Couch. Mama Gabi spielt „World of Warcraft“. Es wird geraucht und aufs Handy geschaut.

Die Zeit vergeht, das Sozialamt sorgt für den Lebensunterhalt. Ein Stillstand, der zwar seine inneren Bewegungen hat – Debatten und Spaßetteln, Streit und Versöhnung, Momente des Glücks und der Trostlosigkeit –, aber trotzdem Stillstand bleibt. Wie filmt man dieses starre Schweben? Ohne die Menschen, die darin feststecken, aus dem Blick zu verlieren?

Eine Frage, mit der die 31-jährige Wiener Filmemacherin Lisa Weber unerwartet konfrontiert wurde, wie sie der „Presse“ erzählt. Claudia kennt sie schon seit ihrer eigenen Teenagerzeit in Simmering. Damals war Weber fasziniert von der Coolness des acht Jahre jüngeren Mädchens, hing oft im Hof mit ihr ab. Dabei entstanden erste gemeinsame Filmaufnahmen. Auch Gerhard war manchmal dabei: „Er war ein richtiger Checker, hat für die Siedlungskinder Fahrräder repariert.“

Wenn die Erwartung zum Warten wird

Als sich Weber an der Filmakademie bewarb, schien es ihr naheliegend, für die Aufnahmeprüfung mit der Familie zu drehen. Und als Claudia mit 14 schwanger wurde, keimte erstmals die Idee, die Entwicklungen in ihrem Leben mit der Kamera zu begleiten. Nach der Fertigstellung von Webers sehenswertem Doku-Debüt „Sitzfleisch“ (2014) fand sich ein Anlass, Claudias Wunsch, zum Bundesheer zu gehen: „Ich habe wirklich geglaubt, dass sie das macht. Es klang wie ein realistisches Ziel – für das Bundesheer braucht man keinen Hauptschulabschluss.“

Von diesem Plan hört man in „Jetzt oder morgen“ nichts. Generell mangelt es an Plänen und Perspektiven. Kaum sind sie da, versickern sie wieder im Alltagstrott. Manchmal meldet sich die Filmemacherin, die bis auf ein paar bewusst gesetzte Ausnahmen dezent im Hintergrund bleibt, aus dem Off, fragt nach, regt an – und Claudia weicht aus oder wiegelt ab.

Aus der Erwartung des Drehteams, dass etwas passieren und sich entwickeln könnte, wurde bald ein reines Warten, so Weber. Irgendwann war klar, dass es im Film um dieses Warten gehen würde. Drei Jahre Stagnation finden sich in „Jetzt oder morgen“, der schon 2020 bei der Berlinale Premiere feierte, auf 90 Minuten verdichtet. Ein Porträt banaler Routinen und schwelender Frustrationen, das aber selbst nie langweilig wird. Auch aufgrund der einnehmenden Hauptfiguren, die einem im Laufe des Films sehr ans Herz wachsen – bei allem Ärger, den man als Zuschauer manchmal mit ihrer Passivität hat.

Weber ist heute noch darüber erstaunt, wie wenig die Anwesenheit der Kamera die Familie verunsichert hat. „Wenn wir da waren, war es leiwand.“ Aber das Filmen habe auch Abwechslung und Austausch bedeutet: „Wenn man arbeitslos ist, hat man weniger soziale Kontakte.“ Wichtig war der Regisseurin, dass alle wussten, dass sie den Dreh jederzeit unterbrechen konnten. „Wir haben nichts gefilmt, was der Familie nicht bewusst war.“

Doch worum geht es nun in diesem Film? Um das Scheitern des Sozialstaats? Um Hoffnung und Enttäuschung, Arbeitslosigkeit und Depression? Oder einfach um die Menschen vor der Kamera, in deren unscheinbarem Drama man bei näherem Hinsehen größere, universellere Dramen erkennt? Etwa wenn die Wohnung wirkt wie ein Gefängnis und der Kindergartenbesuch wie ein Freigang, wenn sich die eigene Hilflosigkeit indirekt und unwillkürlich am Kind entlädt, wenn die verfügbaren Zukunftswege es nicht schaffen, den Willen zu motivieren. Weber: „Ich wollte keinen Film zu irgendeinem Thema machen, sondern aus genuinem Interesse an Claudia und ihrer Familie ein Porträt gestalten. Und ich hoffe, dass sich darin viele Themen verstecken, die sichtbar werden, je nachdem, wer es sieht.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2021)

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