Gastkommentar

Unser Problem mit politischer Bildung

Die Jugend sieht kaum Möglichkeiten, ihre Zukunft selbst zu gestalten, es mangelt an Problemlösefähigkeit.

Wo bleibt der Ruf nach mehr politischer Bildung?“, fragt Kolumnistin Anna Goldenberg (14.10.). Aus der Praxis weiß ich: Politische Bildung zu unterrichten war immer eine besondere Herausforderung. Ich war 34 Jahre lang Lehrer an Berufsschulen und bin Autor des ÖBV-Lehrbuchs „Zielsicher“. Vier Gründe sehe ich als maßgeblich dafür an, dass es in Österreich um politische Bildung schlecht bestellt ist und dass sich daran auch nach schlimmen Ereignissen wie dem Wiener Terroranschlag wenig ändern wird.Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

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Interessen: Anknüpfungspunkt für politische Bildung sind Interessen. Auf die Frage, was in unserer Gesellschaft verbessert werden könnte, bekam ich meistens keine Antworten. Bei Fragen, in welcher Stellung oder Rolle sie sich in zehn Jahren sehen würden, hörte ich in Schulklassen selten Konkretes. Lieblingsbeschäftigung wäre „chillen“, so die häufigste Antwort. Zugegeben: Interessen und Ziele spontan zu formulieren ist nicht leicht. Doch auch fundierte Nachfragen zeigten insbesondere in den vergangenen 20 Jahren, dass Jugendliche heute „rundum versorgt sind“ und sich nicht sonderlich Sorgen um ihre Zukunft machen. Das heißt nicht, dass sie die Zukunft positiv sehen würden, ganz im Gegenteil. Sie sehen nur kaum Möglichkeiten, ihre Zukunft selbst zu gestalten.


Problemlösungskompetenz: Menschen, die wir heute als kompetent, tatkräftig und erfolgreich betrachten, mussten alle in ihrer Jugend viele Probleme lösen. Wir mögen es zwar nicht, Probleme zu haben, aber wir lieben es, sie zu lösen. Unsere Schulen neigen aber dazu, anstatt Lösungen entwickeln zu lassen, was zeitaufwendig ist, fertige Lösungen anzubieten, die nur noch gelernt werden müssen. Eltern halten es heute oft nicht mehr aus, wenn ein Kind ein ungelöstes Problem mit sich herumschleppt. Sie nehmen es ihm sofort ab, schädigen damit jedoch die Entwicklung der Problemlösefähigkeit, also Kompetenz. Viele entwickeln sich zu sogenannten „Helikoptereltern“. Berufsschülerinnen und -schüler haben hier einen Vorteil: An ihren Lehrplätzen haben sie täglich eine Vielzahl von Problemen zu lösen, was einen enormen Entwicklungsschub ermöglicht. In höheren Klassen hatten sie dann durchaus Interessen entwickelt.

Wissenschaftsskepsis: Seit jeher mussten die Menschen täglich eine Unzahl von Problemen lösen. Heute werden uns vom Staat bzw. der Gesellschaft die Mehrzahl abgenommen und manchmal sogar gelöst, bevor sie den meisten als Problem überhaupt bewusst geworden sind. Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass Menschen, die keine Probleme haben, sich Probleme schaffen. Wir entwickeln unsere Identität aus dem Lösen von Problemen. Bieten uns Forscher oder Politiker nur noch fertige Lösungen an, geht das vielen zu schnell. Ein Beispiel ist die Corona-Impfung: Menschen entwickeln eigene Theorien, die oft äußerst abstrus konstruiert sind, aber es sind eben ihre individuellen Lösungen. Wer möchte nicht gern klüger als die Wissenschaft sein?

Klartext: In der Klasse haben Lehrkräfte weitgehende Freiheit von Forschung und Lehre. Doch beim Schreiben des Lehrbuches musste ich feststellen, dass viele Tatsachen, wie die häufigen Zielwechsel der FPÖ und ihre Nähe zu Neonazis oder die Schwächen unserer Justiz durch das Weisungsrecht des Justizministeriums gegenüber Staatsanwälten nicht genannt werden dürfen. Bei der Beschreibung politischer Parteien müssen sich Lehrbücher auf Parteiprogramme beschränken, die bekanntlich sehr verwechselbar sind. Lehrbücher sollen eben den Status quo bejubeln und keine Probleme aufzeigen. Und das ist für Schülerinnen und Schüler todlangweilig.

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