Eine Analyse zeigt, dass Schätzungen von Ausweichreaktionen nach Steueränderungen mit Vorsicht interpretiert werden sollten.
Bereits Benjamin Franklin sagte im Jahr 1789: „Nichts in dieser Welt ist sicher. Außer dem Tod und den Steuern.“ Steuern sind ein notwendiges Übel für einen funktionierenden Staat. Auf der einen Seite implizieren höhere Steuern mehr Ressourcen zur Umverteilung; auf der anderen Seite können sie abschrecken und die Staatseinnahmen, etwa wegen Abwanderung oder Steuerhinterziehung, am Ende sogar mindern. Doch wie sollte der Staat den Zielkonflikt zwischen Verteilung und Effizienz lösen? Für ein optimales Steuer- und Transfersystem ist es notwendig abzuschätzen, wie Steuerzahler auf einen veränderten Steuersatz reagieren. Aus der Optimalsteuertheorie weiß man: Ändern die Betroffenen ihr Verhalten stark, das heißt ist es sehr elastisch, sollte der Staat eher niedrigere Steuern ansetzen.
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Die Elastizität des zu versteuernden Einkommens (engl. elasticity of taxable income (ETI)) ist ein zentrales Maß in der Einkommensteuerforschung. Es fasst verschiedene Arten von Verhaltensanpassungen auf veränderte Einkommensteuersätze zusammen. Steuerzahler können als Reaktion auf höhere Steuersätze etwa weniger arbeiten, auf legale Weise Steuern vermeiden oder illegal Steuern hinterziehen. Genau genommen misst die Elastizität, in welchem Ausmaß ein Individuum sein Einkommen anpasst, wenn der Grenzsteuersatz um ein Prozent erhöht wird. Typischerweise liegt dieser Wert zwischen 0 und 1, wobei große Verhaltensanpassungen durch einen hohen Wert repräsentiert werden.
Neben der Möglichkeit, die eigene Arbeitszeit anzupassen, stehen Steuerzahlenden in vielen Steuersystemen zahlreiche Abzugsmöglichkeiten zur Verfügung, um die individuelle Steuerlast zu senken. So können sie bei einer Steuererhöhung auf legalem Wege ihre Last senken, indem sie vermehrt steuerliche Abzugsmöglichkeiten ausnutzen. Außerdem kann der Anreiz steigen, Steuern auf illegale Weise zu hinterziehen.
Trotz der umfangreichen Literatur (siehe Saez, Slemrod, Giertz (2012) für einen Literaturüberblick) gibt es wenig Konsens über die Höhe dieser Verhaltensanpassung, welche notwendig für eine optimale Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems ist.
In meiner Arbeit (Link: https://academic.oup.com/ej/advance-article/doi/10.1093/ej/ueab038/6263638) nehme ich die bisherige Studienlage genauer unter die Lupe und berücksichtige jeden bisher publizierten Schätzwert. Insgesamt gibt es 1720 Schätzergebnisse aus 61 Studien.
In einem weiteren Schritt untersuche ich, warum die Werte so unterschiedlich sind. Dabei wird zwischen Elastizitäten unterschieden, welche steuerliche Abzugsmöglichkeiten (engl. tax deductions) berücksichtigen oder nicht. Das heißt, es wird zwischen Elastizitäten unterschieden, welche auf dem zu versteuerndem Einkommen (engl. taxable income) oder auf der Summe der Einkünfte (engl. broad income) basieren.
Deskriptiv zeigt sich, dass der Mittelwert aller Elastizitäten, welche auf dem zu versteuernden Einkommen beruhen – also steuerliche Abzugsmöglichkeiten berücksichtigen –, bei 0.403 liegt, der Mittelwert aller Elastizitäten, welche auf der Summe der Einkünfte beruht, bei 0.287. Der Unterschied spiegelt das größere Ausmaß an Möglichkeiten wider, die ein Steuerzahler hat, um seine Steuerlast mittels Abzugsmöglichkeiten anzupassen.
In einer weiteren empirischen Analyse zeigt sich, dass Elastizitäten nach Abzug von Steuerermäßigungen nicht nur per Definition größer sind, sondern auch empfindlicher gegenüber der zugrundeliegenden Schätzstrategie. Auf Grundlage der gesammelten Schätzergebnisse und unter Berücksichtigung der gewählten empirischen Strategie lassen sich stilisierte Elastizitäten berechnen. Hier liegt die durchschnittliche Elastizität vor Abzug von Steuerermäßigungen zwischen 0.053 und 0.120, während Elastizitäten, welche steuerliche Abzugsmöglichkeiten berücksichtigen, zwischen 0.074 und 0.827 liegen.
Der optimale Spitzensteuersatz?
Die stilisierten Elastizitäten nach Abzug der Steuerermäßigungen implizieren optimale Spitzensteuersätze zwischen 44.63% und 90.01%, um die Steuereinnahmen des Staates zu maximieren.
Zusätzlich lässt sich zeigen, dass Elastizitäten nicht unveränderlich sind. Vielmehr Schwanken sie nicht nur je nach gewählter empirischer Schätzstrategie, sondern auch aufgrund der gegebenen Situation innerhalb einer Volkswirtschaft. Beispielweise hängt die Einkommensverteilung innerhalb eines Landes mit der resultierenden Elastizität zusammen. Ist diese sehr ungleich, ist die Elastizität höher.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Schätzungen der Elastizität des zu versteuernden Einkommens stark schwanken und politische Schlussfolgerungen irreführend sein können. Elastizitäten müssen also mit Vorsicht interpretiert werden.
Die Autorin
Dr. Carina Neisser ist Post-Doc im Bereich Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln und Mitglied des Exzellenzclusters ECONtribute: Markets & Public Policy. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Fragen aus den Bereichen der empirischen Finanzwissenschaft und politischer Ökonomie.
Referenzen
Bierbrauer, Felix (2016), Effizient oder Gerechtigkeit? Ungleiche Einkommen, ungleiche Vermögen und Optimale Steuern, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 17(1): 2-24.
Neisser, Carina (2021), The Elasticity of Taxable Income: A Meta-Regression Analysis, Economic Journal, im Erscheinen.
Peichl, Bierbrauer, Sachs und Weishaar (2021), Mehrheitsfähige und wohlfahrtssteigernde Reformen des deutschen Steuer- und Transfersystems: Von Entzugsraten, Mittelstands- und Wohlstandbäuchen, Perspektiven der Wirtschaftspolitik
Saez, Slemrod, und Giertz (2012), The Elasticity of Taxable Income with Respect to Marginal Tax Rates: A Critical Review, Journal of Economic Literature, 50(1), 3-50.