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Julian Reichelt: Der tiefe Fall eines Machtmenschen

Julian Reichelt verlor seinen Job.
Julian Reichelt verlor seinen Job. APA/dpa/Michael Kappeler
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Knalleffekt bei der deutschen „Bild"-Zeitung: Die schon länger bekannten Machtmissbrauchs-Vorwürfe gegen Julian Reichelt wiegen so schwer, dass er mit sofortiger Wirkung als Chefredakteur abtreten musste. Was ist passiert?

Wie sollte sich ein Chef (und natürlich auch eine Chefin) gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verhalten? Darf man nach „Fuckability“ einstellen? Und ist Sex mit Machtgefälle - solange er einvernehmlich ist - akzeptabel? Selbst dann, wenn er mit beruflichen Vorteilen verbunden ist?

Viele werden diese Fragen wohl mit einem klaren „Nein“ beantworten. Auch wahr ist, dass in vielen Unternehmen solche Grenzüberschreitungen lange Zeit hingenommen wurden und keine Konsequenzen nach sich zogen. Dass das auch bei der deutschen „Bild"-Zeitung der Fall war, darauf deuten Recherchen verschiedener Zeitungen hin: Es war offenbar lange ein offenes Geheimnis in der Redaktion, dass Julian Reichelt Berufliches und Privates nicht klar trennte. Am Montag wurde der Chefredakteur mit sofortiger Wirkung abgesetzt.

Die Erzählung mehrerer Mitarbeiter, die alle anonym bleiben wollten, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Reichelt soll junge Frauen gefördert, gelobt und bewundert haben - mit dem Hintergedanken, dass daraus eine sexuelle Beziehung entsteht. Besonders heikel: Reichelt soll letztendlich auch Personalentscheidungen davon abhängig gemacht haben. Er selbst bestreitet das. Doch die bereits im Frühjahr erstmals veröffentlichten Vorwürfe wiegen nun offenbar so schwer, dass der Axel-Springer-Verlag am Montag die Reißleine zog.

„War bereit, sein Leben zu riskieren"

Julian Reichelts Biographie ist schon seit der Kindheit mit der auflagenstärksten Tageszeitung Deutschlands verwoben. Sein Vater arbeitete als freier Journalist in der Berliner „Bild"-Redaktion. Der Sohn sollte ihn karrieretechnisch bald überholen. 2002 begann der damals 22-jährige Reichelt als Volontär bei der „Bild", schon bald machte er sich einen Namen als Kriegsberichterstatter, 2007 wurde er Chefreporter, 2014 Online-Chef. Und 2017 beerbte er Kai Diekmann als Chefredakteur.

Reichelt eckte an. Etwa, als er sich 2015 einer Absprache widersetzte, angeklagte mutmaßliche IS-Kämpfer unverpixelt zeigte und aus einem Gerichtssaal geschmissen wurde. Oder zuletzt während der Coronapandemie, als er so agierte, dass ihm mehrere deutsche Medien eine regelrechte Kampagne gegen den Virologen Christian Drosten vorwarfen.

Doch Reichelt hat zweifelsohne auch seine Fans: „Er war bereit, sein Leben für Bild zu riskieren“ und sei ein großartiger Chef gewesen, zollen ihm mehrere „Bild"-TV-Moderatoren nach dem Rauswurf in einem Video Respekt. Den TV-Sender hat Reichelt erst vor kurzem gestartet.
Auch Axel-Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner tut die Entlassung weh, das merkt man. Reichelts journalistische Leistung sei „hervorragend“ gewesen, heißt es zum Abschied. Den gemeinsamen Weg wäre man gern weitergegangen. Vor allem der kritische Kurs in der Coroankrise schien Döpfner, der nun selbst in der Kritik steht, zu gefallen.

Die Machtmissbrauchs-Vorwürfe gegen Reichelt sind schon seit März öffentlich, in der Redaktion gab es daher auch ein internes Untersuchungsverfahren, doch Reichelt durfte schon nach zwei Wochen wieder auf den Chefredakteursposten zurückkehren und gelobte Besserung. Man habe keine Hinweise auf sexuelle Nötigung oder andere strafrechtlich relevante Vorfälle gefunden, hieß es damals vom Verlag. Es gehe lediglich um Führungsfehler.

In der aktuellen Erklärung ist nun zu lesen: „Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen". So habe der Vorstand erfahren, dass er auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr „Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat“.

Unveröffentlichte Recherchen

Ausschlaggebend für die plötzliche Entlassung war wohl ein Bericht der "New York Times". Die US-Zeitung brachte bisher unveröffentlichte Recherchen ins Spiel, die das Investigativ-Team der Mediengruppe Ippen ("Frankfurter Rundschau", "Münchner Merkur", "TZ") in den vergangenen Monaten vorangetrieben hatte. Diese Recherchen sind bisher auf Wunsch der Verlagsleitung nicht veröffentlicht worden, was für heftige Kritik sorgte. Ein Protestbrief kursiert im Internet. Für die „New York Times“ war die Geschichte übrigens vor allem deshalb von Interesse, weil Axel Springer seit einigen Jahren am US-Medienmarkt kräftig mitmischt und im vergangenen August das Portal „Politico“ für mehr als 630 Millionen Euro kaufte.

Auch ein „Spiegel"-Team blieb am Fall dran, sichtete Hunderte Nachrichten und sprach mit mehreren Frauen. Außerdem flossen die Recherchen der Ippen-Gruppe in einen ausführlichen Bericht des Nachrichtenmagazins ein, der am Montag veröffentlicht wurde. Demnach soll es eine weitere sexuelle Beziehung zwischen Reichelt und einer ihm unterstellten Mitarbeiterin gegeben haben. Bereits im Verfahren im Frühjahr soll er die Unwahrheit über diese zweite Beziehung gesagt haben - und sie außerdem nicht beendet haben. Reichelt wollte sich zu den neuen Anschuldigungen bisher nicht äußern. Eine weitere Beziehung mit einer Ex-Mitarbeiterin wurde bereits vor Monaten bestätigt.

Gefördert und verführt

Öffentlich geäußert hat sich bislang übrigens auch keine der Frauen, dem Bericht zufolge auch deshalb, weil es Angst vor Konsequenzen gab. Das Betriebsklima soll schwierig gewesen sein, Reichelt den Mitarbeiterinnen teils gedroht haben.

Im Schutz der Anonymität sprechen mehrere Reaktionsmitglieder aber von einer Macho-Kultur in der „Bild"-Zeitung: Frauen würden vor allem nach ihrer Optik beurteilt - oder, wie es eine Führungskraft gegenüber dem „Spiegel“ ausdrückte, nach ihrer „Fuckability“ eingestellt. Reichelt sei noch einen Schritt weiter gegangen, er habe Verführung mit System betrieben. Er soll junge Volontärinnen, vor allem jene, die selbstbewusst auftraten, gelobt und umgarnt haben. Mehrere Frauen beschreiben, dass sich Reichelt bereits ganz zu Beginn ihrer Ausbildungszeit bei Springer als eine Art „Mentor" etablierte.

Reichelt, der sonst eher resolut auftrat, soll sich gegenüber den jungen Frauen verletzlich und nahbar gezeigt haben. Das machte Eindruck; irgendwann seien dann eben Affären daraus entstanden - durchaus von beiden Seiten gewollt. Um wie viele Frauen es geht, ist nicht bekannt.

Überfordert und gemobbt

Dass sein Verhalten nicht mit seiner Führungsposition zu vereinbaren war, wusste Reichelt offensichtlich: Eine betroffene Frau berichtete in der internen Untersuchung etwa, dass er sie aufgefordert habe, ihren kompletten Nachrichtenverlauf zu löschen, sonst gäbe es „ganz großen Ärger". Dieselbe Frau berichtete auch, dass er sie 2018 in eine höhere Position befördert haben soll, der sie sich selbst nicht gewachsen fühlte. Im „Spiegel"-Bericht heißt es dazu wörtlich: „Im März wurde sie von der Wirtschaftskanzlei Freshfields, die Springer mit der Aufklärung beauftragt hatte, zu den Vorwürfen befragt. Ob Reichelt Jobs davon abhängig mache, dass man mit ihm schlafe, wollte die Untersuchungsleiterin wissen, so steht es in einem Protokoll des Gesprächs, das dem 'Spiegel' über Dritte zukam. Die Frau antwortete demnach: Dafür sei sie ja wohl das beste Beispiel."

Sie habe sehr unter der Situation gelitten, heißt es im „Spiegel"-Bericht weiter. Auch deshalb, weil in der Redaktion über sie getuschelt wurde. Sie habe sich gemobbt und überfordert gefühlt, landete am Ende in psychiatrischer Behandlung. Das Beispiel zeigt die Schattenseiten von solchen Affären mit hierarchischem Gefälle, die bei „Bild“ offenbar lang geduldet wurden.

Ob sich die Unternehmenskultur nun nachhaltig ändert, wird sich noch zeigen. Axel Springer hat jedenfalls Johannes Boie, derzeit Chefredakteur von „Welt am Sonntag", zum neuen „Bild"-Chef bestellt. Co-Chefin Alexandra Würzbach, die Reichelt im März nach Bekanntgabe der Vorwürfe zur Seite gestellt wurde, bleibt im Amt. Ende der Geschichte? Der Aufklärungsbedarf sei weiterhin groß, heißt es jedenfalls in einem Kommentar der „Süddeutsche Zeitung“. Sie schreibt: „Julian Reichelt ist seinen Job los - aber warum konnte er sich eigentlich so lange halten?"

>>> Bericht auf „Spiegel.de"

>>> Bericht der „New York Times"

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