Erinnerung an ein Leben im Laufschritt

APA/HANS PUNZ
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Die Innenstadt pulsiert, die Touristen sind zurück.

Das Leben ist zurück in der Innenstadt – und wie. Wenn man aus der Tiefe der U-Bahnstation an die Oberfläche taucht, treffen einen Stimmengewirr und Gewurl wie der erste grelle Lichtstrahl nach einer langen, dunklen Nacht. Es sind nicht einfach nur viele Menschen da, es sind Urlauber, man hört wieder Französisch, Spanisch, Italienisch, die Fremdenführer sind zurück, die Mozarts, die Selfie-Sticks, und die Taschendiebe wohl auch. Die Stimmung vor dem Stephansdom ist laut, fröhlich, dankbar.

„Es ist wie früher“, sage ich zum Kollegen. „Früher ist lange her“, sagt er. Dann sind wir beide still. Es ist fast ein bisschen manisch, das Genießen, das Staunen über die eigene Ausgelassenheit. Abends sind die Gastgärten voll, sogar an Montagen. Er habe das Gefühl, die Menschen hingen am Jetzt, als ginge sonst etwas verloren, erzählt ein Wirt. Seit das Undenkbare eingetreten ist, bleibt der Zweifel, ob es nicht noch einmal zu Schließungen kommen könnte. Lieber drei mal Gansl essen gehen, als noch einmal allein daheim.

Das bestätigt auch die Rezeptionistin einer Therme. Das Hotel sei fast bis Weihnachten völlig ausgebucht, aber was noch dazu komme, sei das veränderte An- und Abreiseverhalten. Die einen reisten weit früher an, die anderen später ab und zahlten lieber nochmal auf. „Jede Minute wird genützt“, erzählt sie.

Wie schnell fällt man in den alten Schritt zurück? Wenn etwa das Tempo nicht an andere Familienmitglieder angepasst werden muss, ist der Gang wie früher? „Was rennst denn so“, heißt es dann, dabei ist das flotte Gehen ein Familienerbe, zumindest des weiblichen Teils. Die Tante in England ging auch immer im Laufschritt, bis alles beschwerlicher wurde und das Gehen letztendlich nur noch eine Qual war. Nun hat es ganz aufgehört. Auch wenn früher lange her ist, die Erinnerung wird immer Schritt halten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2021)

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